Berufslehre oder Gymnasium? Version im „Tages-Anzeiger“

Kolumne im Tages-Anzeiger vom 21. 3. 2017.

Lange Zeit wurde gepredigt, der Trend zur Wissensgesellschaft erfordere immer mehr Leute an der Uni. Das ist ein Irrweg.

Frühlingszeit ist auch Prüfungszeit, Zeit des Kampfs ums Gymnasium. Im Kanton Zürich sind Eltern und Schülern die Resultate der Gymnasiumszugangsprüfung vor ein paar Tagen mitgeteilt worden. In andern Kantonen, Bern oder Aargau etwa, wird der Kampf ums Gymnasium zeitlich weniger scharf getaktet und weniger verbissen geführt. Aber stets bringt die Weichenstellung Gymnasium oder Berufslehre Belastung und Stress in die Familien.

Im Kanton Zürich besuchen ein Viertel bis ein Drittel der Gymnasiumsaspiranten zusätzliche, privat bezahlte Kurse oder Privatunterricht. Das ganze Prüfungssystem wird so zur Klassenselektionsmaschine.

So hängt man der Berufslehre ein soziales Stigma an.

Der Germanist und Gymnasiallehrer Andreas Pfister versteigt sich in seinem Kampf fürs Gymnasium auf zu einer regelrechten Miesmacherei gegen die Berufsbildung: «Wer nur eine Berufslehre ohne Berufsmaturität macht, erweist sich keinen guten Dienst für die Zukunft.» Und die Eltern ängstigt er mit den Worten: «Stellen Sie sich vor, Ihrem Kind würde die Zukunft geklaut.» Den 59 Prozent Zürchern, die laut Umfrage eine restriktivere Gymiselektion wünschen, unterstellt er eine «dumpfe Stammtisch-Irrationalität».

Solche elitären Miesmacher-Phrasen sind verheerend für die gesellschaftlichen Werte und besonders für jene 80 Prozent der Eltern, deren Kinder nicht ins Gymnasium eintreten. So hängt man der Berufslehre ein soziales Stigma an.

90-Prozent-Maturitätsquote ist abwegig

Der erwähnte Gymnasiallehrer fordert, dass alle Jugendlichen obligatorisch bis zum Alter von 18 Jahren zur Schule gehen und dass 90 Prozent von ihnen eine Maturität absolvieren sollten, je ein Drittel eine gymnasiale, eine Berufs- und eine Fachmaturität. Die restlichen 10 Prozent will er in die Sonderförderung stecken.

Ich schreibe hier nicht, um mit solchen abwegigen Akademisierungsfantasien abzurechnen. Denn akademischer Bildungsdünkel ist unheilbar und beratungsresistent! Ich schreibe hier, um das durchlässige, auch karriereorientierte Berufsbildungssystem einmal mehr in Erinnerung zu rufen und dadurch Eltern wie Jugendlichen Zuversicht zu geben. Das Grundprinzip unseres Berufsbildungssystems heisst: Kein Abschluss ohne Anschluss!

Wer eine Berufslehre wählt, kann während oder nach der Lehre die Berufsmaturität absolvieren, die einen prüfungsfreien Zugang zur Fachhochschule FH (Tertiär A) erlaubt. Oder wer eine Berufslehre abgeschlossen hat, kann sich später ohne Matur berufsbegleitend in der Höheren Berufsbildung (Tertiär B) spezialisieren.

Es gibt mittlerweile rund 450 eidgenössisch anerkannte Abschlüsse der Höheren Berufs­bildung (HBB) mit drei Stufen: der Höheren Fachschule (HF), der Berufsprüfung (BP) und der sehr anspruchsvollen Höheren Fachprüfung (HFP), früher Meisterprüfung. Die HBB-Absolventen sind in der Berufspraxis die Teamchefs, die Techniker, die tragenden mittleren Kader. In der KMU-Wirtschaft sind sie Betriebsinhaber. Die Schweizer Wirtschaft würde zusammenbrechen ohne diese hoch qualifizierten Leistungsträger. HBB-Absolventen verdienen im Durchschnitt schon 2200 Franken pro Monat mehr als die Fachkräfte mit Berufslehre EFZ.

Wissensgesellschaft heisst Durchdringung aller Branchen mit neuesten Technologiekompetenzen.

Lange Zeit wurde gepredigt, der Trend zur Wissensgesellschaft erfordere immer mehr Leute an der Uni. Das ist der Irrweg in vielen Ländern, die heute in der Akademisierungsfalle stecken. Wissensgesellschaft heisst vielmehr Durchdringung aller Branchen und aller Tätigkeitsstufen mit neuesten Technologiekompetenzen mittels lebenslangen Lernens. Wer ursprünglich Heizungsmonteur oder Spengler gelernt hatte, macht heute mit HBB eine Spezialisierung in Solar-, Wärmepumpen- oder Sensortechnik oder wird zum Gebäudeautomatiker auf einem Niveau, das einem ausländischen Ingenieurstudium gleichwertig ist.

Wer eine kaufmännische Lehre absolviert hat, spezialisiert sich in Rechnungswesen, Marketing oder Wirtschaftsinformatik auf einem Kompetenzniveau eines Uni-Bachelors aus dem Ausland. In der ganzen Wirtschaft wird die digitale Revolution bei uns besser bewältigt, weil auch 30- oder 40-Jährige über die Höhere Berufsbildung das neuste digitale Kompetenzniveau erwerben.

«Leistungsstark wird verwechselt mit bildungsstark», sagte letzte Woche kurz und bündig Wirtschafts- und Bildungsminister Johann Schneider-Ammann, der sich glaubwürdig für das schweizerische Berufsbildungssystem im Inland und Ausland engagiert.

Die Diffusion neuer Technologien und effizienterer Verfahren in der Wirtschaft läuft stark über die Höhere Berufsbildung. 30 bis 40 Prozent der Erwerbstätigen mit Berufslehre absolvieren in ihrer Berufskarriere diese Weiterbildungen. Der erwähnte Gymnasiallehrer bezeichnete solche Bildungsgänge indes als «Gebastel». Von Berufsbildung und Arbeitsmarkt hat der Germanist keine Ahnung.

Fachkräftemangel falsch interpretiert

Der Fachkräftemangel wird oft vorgeschoben, um die Maturitätsquote hinaufzuschrauben. Das ist eine standespolitisch motivierte Verirrung. Wir haben in der Schweiz nicht generell zu wenig Akademiker. Wir haben aber zu wenig eigene Ärzte wegen des Numerus Clausus, zu wenig Pflegepersonal wegen früherer, jahrelanger Vernachlässigung der Spitalausbildung, zu wenig Ingenieure und Informatiker wegen der Selektion durch die Sprachlastigkeit der Gymnasien. Vom Arbeitsamt des Kantons Zürich wissen wir, dass von den im Rahmen der Personenfreizügigkeit zugewanderten Arbeitskräften nur etwa 20% den eigentlichen Fachkräftemangel-Berufen zuzuordnen sind.

Die Schweizer Universitäten bildeten im vorigen Jahr 10’006 Studierende in Psychologie aus, 4556 in Politikwissenschaft, 3870 Historiker und Kunsthistoriker, 2307 in Medienwissenschaft. Anderseits fehlen Tausende Studierende in den Mint-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik. Das ist ein hausgemachtes Problem der einseitigen und falschen Selektion beim Gymnasium und danach.

Viele Universitätsabsolventen haben deshalb heute einige Mühe, auf dem Arbeitsmarkt eine sichere Stelle zu ergattern. Die BFS-Absolventen-Befragung zeigt: Von allen Uni-Absolventen haben ein Jahr nach dem Masterabschluss 50 Prozent noch keine feste Anstellung, sondern sind in Praktika und befristeten Jobs; und fünf Jahre nach dem Abschluss sind es noch immer 30 Prozent. Unter den Fachhochschulabsolventen trifft dies nur 12 respektive 5 Prozent.

Der Bildungsdünkel ist ein schlechter Ratgeber.

In aller Stille hat der Arbeitsmarkt gekehrt: Hochqualifizierte, die bei ihrer Ausbildung eine berufspraktische Vorbildung wie die Lehre mitbringen, sind heute begehrter. Im Februar 2017 waren in den RAVs laut Seco 3290 Arbeitslose mit Doktortitel und 12’650 Uni-Absolventen mit Masterdiplom als arbeitslos registriert. Der universitäre Bildungsgang ist heute für viele kein Garant mehr für Job und Karriere.

All diese Arbeitsmarktindikatoren sollten auch Eltern und jenen Jugendlichen, die ihre Berufslaufbahn mit einer Berufslehre beginnen, die persönliche Perspektive aufhellen. Der Bildungsdünkel ist jedenfalls ein schlechter Ratgeber.

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