Ökonomische Irrtümer der Gegenwart

Publiziert unter dem Titel „Vier schlechte Ideen“ in der Weltwoche vom 30. Oktober 2014, Seiten 40-43.

 

Was haben wir in den letzten Jahrzehnten nicht alles an wechselnden ökonomischen Doktrinen und Dogmen erlebt! Immer neue wirtschaftliche Glaubensbekenntnisse wurden von Gurus mit professoralem Imponiergehabe vorgetragen und vom Mainstream nachgebetet, – und dann nach einigen Jahren wieder still versenkt.

 

Heute lassen sich etwa die Protagonisten der monetaristischen Verirrung der 1990er Jahre oder die Antreiber der Finanzmarktderegulierung der zwei Jahrzehnte vor 2008 nicht mehr gerne an ihre damaligen Fehlleistungen erinnern. Es waren gleichsam sektiererische Verirrungen des ökonomischen Mainstreams.

 

Es gibt auch ökonomische Thesen, die zwar stark verbreitet, aber nie befolgt werden. Zum Beispiel fordern heute weltweit alle bankenunabhängigen Ökonomen von links bis rechts mehr Eigenmittel der Bankhäuser zur Systemstabilisierung. Doch die Bankenoligarchie konnte bisher die regulatorische Umsetzung dieser Konsensmeinung verhindern.

 

Wirtschaftswissenschaft ist eben keine exakte Wissenschaft, auch wenn sie mit noch so (schein)exakten ökonometrischen Modellen daherkommt. Wirtschaftwissenschaft ist und bleibt eine normative Wissenschaft, sie ist also immer mit weltanschaulichen Urteilen besetzt und vertritt – oft versteckt – auch ökonomische Interessen. Keynes bezeichnete die Ökonomie als „Moral Science“. Sie ist es noch heute.

 

Hier fokussiere ich mich auf vier Fehlleistungen der ökonomischen Doktrinen mit internationalem Bezug. Alle vier Mainstream-Dogmen sind Facetten der Problematik der Globalisierung. Ich räume aber selbstkritisch ein: Erst die nächste Generation wird ihr Urteil darüber fällen. Jede

ökonomisiche Doktrin hat ihre Zeit des Leuchtens und ihre Zeit des Verglühens.

 

 

  1. Irrtum: Anti-Etatismus und Steuerwettbewerb

 

Etwas läuft schief im Kapitalismus. Es ist die wachsende Kluft zwischen arm und reich. Sie zerstört jene Verheissung, die der Gesellschaftsvertrag der westlichen Demokratien ursprünglich von der Marktwirtschaft erwartet hatte. Die extreme Ungleichheit zerstört mit ihren Spitzenlöhnen letztlich den Leistungswillen. Ungleichheit beschränkt die Nachfrage und damit das Wachstum der Volkswirtschaften. Sie hebelt die Demokratie aus ihrer Verankerung, weil der Grundsatz des mündigen, gleichberechtigten Bürgers als Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit aufgeweicht worden ist.

 

Die wachsenden Ungleichheiten widerlegen die Doktrinen des ökonomischen Lehrbuchs von den Segnungen der Marktwirtschaft. Die Wettbewerbswirtschaft ist produktiv und effizient. Aber sie ist nicht gerecht, wenn sie nicht durch den Fiskalstaat flankiert oder korrigiert wird.

 

Der Mainstream des neoliberalen Anti-Etatismus in der Ökonomie stammt ideengeschichtlich von Friedrich A. von Hayek. Seine politische Polemik gegen den Staat und gegen die Linke hatte deshalb über Jahrzehnte hinweg Bestand, weil der Antietatismus das ökonomische Kampfthema der Reichen ist, wie der amerikanische Ökonom Paul Krugman bemerkte. Reiche brauchen Staat und Steuern nicht. Ihr Verteilungskampf läuft heute über Steuern und Steuerwettbewerb.

 

Die aktuelle Spielart des Antietatismus ist die Doktrin von den Vorzügen des (innerstaatlichen und internationalen) Steuerwettbewerbs: Die Wirtschaftsstandorte sollen mit individuell gestalteten Steuerregimes miteinander konkurrieren und damit den Reichen, Superreichen und dem mobilen Kapital in Holdings und Domizilgesellschaften eine Steueroptimierung – im Klartext: die Steuervermeidung – ermöglichen.

 

500 internationale Rohstofffirmen verursachen hohe Kosten durch soziale und ökologische Langzeitschäden in Zimbabwe, Kongo, Südafrika oder Bolivien, zahlen aber nichts dafür und suchen den Standort in Steueroasen am Zuger- oder Genfersee. Hat dieser Exzess mit Marktwirtschaft im Sinne von Verursacherprinzip und Kostenwahrheit noch etwas zu tun?

 

Innerhalb der Schweiz manifestiert sich der interkantonale Steuerwettbewerb als Abbild der globalen Unterschiede in der Fiskalbelastung: Steueroasen wie Zug, Schwyz oder das monacoisierte Genfersee-Ufer beherbergen mit ihren besten See-nahen Luxusstandorten die reichen Steuervermeider. Zug und Schwyz profitieren von der Nähe des Flughafens, von den Zentrumsleistungen der dreissig Minuten entfernten Stadt Zürich. Ihre reichen Steuervermeider benutzen die exzellente Infrastruktur, Theater, Schulen und Hochschulen Zürichs, sie profitieren von der hohen Sicherheit, doch sie zahlen ihre Kosten nicht. Ökonomisch lassen sich solche Marktverzerrungen und dieser Leistungstransfer an die reichen Nichtzahler nie rechtfertigen. Der Steuerwettbewerb unter den Kantonen ohne eine Flankierung durch harmonisierte Steuersätze ist konzeptionell eine Fehlkonstruktion des Neuen Finanzausgleichs. Ich plädiere nicht für eine Einheitssteuer. Aber es braucht eine Eingrenzung der Steuersätze innerhalb einer Limite von Minimal- und Maximalbelastungen. Sonst wachsen die fiskalischen Disparitäten und Lastenverzerrungen immer schneller als der kompensierende Finanzausgleich.

 

Zwei jüngere Analysen haben den neoliberalen Anti-Etatismus kräftig in Frage gestellt. Da ist erstens die bürgerliche, entwicklungsgeschichtliche Analyse von Daron Acemoglu und James A.Robinson „Why Nations fail“ („Warum Nationen scheitern“). Sie führt die Bedeutung von starken staatlichen Institutionen für die Entwicklung und den Wohlstand eines Landes vor Augen. Sie ist quasi ein Plädoyer für einen starken Staat, der seine Institutionen stärkt, Eigentum und Unternehmertum vor Korruption schützt, die Steuern gerecht abschöpft und die Infrastruktur finanziert sowie ein öffentlich-republikanisches Bildungssystem unterhält..

 

Die zweite Analyse ist für den neoliberalen Mainstream eine noch grössere Herausforderung, nämlich das Buch von Thomas Piketty „Das Kapital im 21.Jahrhundert“: Entgegen dem ökonomischen Lehrbuch, das im Kapitalismus Allen mehr Wohlstand und Nutzen versprach, sind die Einkommmens-Disparitäten über Jahrzehnte hinweg in fast allen Ländern massiv gewachsen. Das Kapital hat sich beim einen Prozent der Reichsten in ungeahntem Mass konzentriert. Eine neue Feudalklasse hat sich herausgebildet. Seither tun sich alle konzernfinanzierten Thinktanks der Welt schwer mit Widerlegungsversuchen dieses historischen Befunds.

 

Die heftigste Erschütterung des Glaubens an den Steuerwettbewerb kam aber nicht aus Büchern, sondern von den realen ökonomischen Erschütterungen. Seit der Finanzkrise von 2008 ist der internationale Steuerwettbewerb in Legitimationsnotstand und politisch unter Druck.

 

Der Prozess der mentalen Korrektur ist schmerzhaft und teuer. Schweizer Bankiers haben mit ihrem dogmatischen, lernunfähigen Festhalten am Bankgeheimnis eine blutige Nase abbekommen. Die Bewältigung ihrer Steuerhinterziehungsaffären wird Banken und Bankaktionäre noch weitere Jahre viele Milliarden kosten. Die Steueroasen für Konzerne und Holdings sind ihrerseits durch die OECD-Steuerharmonisierung unter Anpassungszwang; und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Steuerprivilegierung von Superreichen – in der Schweiz zum Beispiel durch die Pauschalbesteuerung – unter internationalen Druck der zivilisierten Staaten gerät (was ich sehr begrüssen würde). Es braucht nicht Einheitssteuertarife, aber international gültige, minimale Besteuerungsregeln und einen Austausch von Steuerinformation. Die Globalisierung der Wirtschaft erzwingt auch globale fiskalische Spielregeln.

Das Fazit: Nach meiner Einschätzung wird man die Wohlfahrtsfunktionen des Staates wieder stärker ins ökonomische Kalkül einbeziehen. Doch der Anti-Etatismus, die ideologische Staatsfeindlichkeit, wird wohl in anderer Form seine Wiederbelebung erfahren.

 

 

  1. Irrtum: Die soziale und ökologische Blindheit in der Freihandelsdoktrin

 

Wenn ich Leute frage, nach welchen Spielregeln eigentlich die Globalisierung der Wirtschaft erfolgt, können die wenigsten das Gatt/WTO-Regelwerk nennen. Und doch ist das Freihandels-System der WTO Taktgeber in der Expansion des Welthandels mit Waren (Gatt-Verträge) und Dienstleistungen (Gats), im Patent-, Marken- und Urheberrecht (TRIPS), im internationalen Wettbewerb bei öffentlichen Ausschreibungen (Submissionsrecht). Der zweite starke Regelgeber ist der Internationale Währungsfonds IWF. Er gibt die internationale Finanzarchitektur vor.

 

Diese völkerrechtlichen Spielregeln schützen vor allem die kleinen Staaten wie die Schweiz vor der Willkür der Grossen und ihrer Kanonenboot-Diplomatie. Deshalb wäre es falsch, in der Schweiz die Priorität des Völkerrechts grundsätzlich in Frage zu stellen. Völkerrechtliche Verträge haben Priorität, weil sie nicht einseitig abgeändert werden dürfen.

Das WTO-Regelwerk schützt die Schweiz beispielsweise, was viele gerne übersehen, auch vor möglichen Sanktionen der EU oder anderer Wirtschaftsmächte. Selbst wenn die Bilateralen Verträge in einem Worst Case-Szenario wegfallen würden, könnte die EU nicht einfach WTO-widrige Handelsschranken errichten. Denn 95% unseres Wirtschaftsverkehrs mit der EU ist Gatt/WTO-konsolidiert und kann nicht mit Sanktionen belegt werden. Die WTO verbietet nämlich die Verschlechterung einmal eingeführter Handelsliberalisierungen. Es grenzt an intellektuelle Unredlichkeit, wenn mit der Aufhebung der bilateralen Verträge Schweiz-EU drohend argumentiert und gleichzeitig die Schutzfunktion des WTO-Regelwerks (die es 1992 noch nicht gab) nicht einbezogen und nie erwähnt wird!

 

Globale Spielregeln zur Handelsliberalisierung sind per saldo nutzbringend. Doch das WTO-System hat einen schweren Konstruktionsfehler: Das WTO-Regelwerk ist ökologisch und sozial blind! Es erklärt die Freihandelstheorie („Theorie der komparativen Kostenvorteile“) zum unverrückbaren Dogma und hindert damit seine Weiterentwicklung.

 

Die WTO ignoriert völkerrechtliche Normen zum Schutz der arbeitenden Menschen, etwa die Kernkonventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, , wie das Verbot von Zwangsarbeit, von Kinderarbeit, von rassischer Diskriminierung. Die Volksrepublik China lässt etwa 3 Millionen Gefangene als Zwangsarbeiter für die Wirtschaft produzieren und im Subcontracting auch für multinationale Handelskonzerne arbeiten. Doch die ILO-Konvention, die dies verbietet, wird von der WTO nicht als gleichwertig anerkannt. Auch der Freihandelsvertrag Schweiz-China schliesst diesbezügliche soziale Schutzmechanismen aus. Eigentlich ist dies Freihandel unter einseitiger Ausnützung von Zwangsherrschaft!

 

Das WTO-System ignoriert auch international vereinbarte ökologische Normen zum Schutz der Meere, der Atmosphäre, der Biosphäre. Multinationale Chemiefirmen, die in Basel für die Hochtemperaturverbrennung ihres hochgiftigen Sonderabfalls 1400 Franken pro Tonne aufwenden müssen, entsorgen die Giftstoffe gratis und ungestraft im Chinesischen Meer.

 

Mit andern Worten, das WTO-System erlaubt – ja begünstigt – soziales und ökologisches Dumping in der Weltwirtschaft. Es geht zwar von einer Marktwirtschaftsdoktrin mit freien Wettbewerbspreisen aus. Aber man erlaubt China, seine Währung mit festen, staatlich verordneten Wechselkursen 50 bis 100% zu tief zu fixieren und damit billiger zu exportieren und Importe abzuwehren. In den letzten zwei Jahrzehnten sind in Südeuropa in der Folge schätzungsweise 26 Millionen Industriearbeitsplätze durch die Importschwemme aus China verdrängt worden.

 

Die Welthandelsliberalisierung hat sich in ihrer sozialen und ökologischen Blindheit selber in die Sackgasse manövriert. Seit dem Abschluss der Uruguay-Runde (1986-94) gab es keine Weiterentwicklung. Die Doha-Runde der WTO ist nach 13 Verhandlungsjahren endgültig gescheitert. Massgeblich am Scheitern beteiligt waren die Globalisierungsverlierer, betroffene soziale Schichten, die Landwirtschaft, ökologische Kreise.

 

Die globalen Marktwirtschaftsdogmen erstickten sich politisch selber in ihrem Dogmatismus und ihrer sozialen und ökologischen Blindheit Wettbewerbswirtschaft und Globalisierung lassen sich, dies ist das Fazit, nicht ohne soziale und ökologische Standards verwirklichen. Der politische Kampf der Zivilgesellschaft geht dahin, Sozialstandards, Ökostandards, Menschenrechtsstandards in Zukunft auch auf einer übergeordneten Ebene der globalen Wirtschaft multilateral als gleichwertige Spielregeln anzuerkennen. Auch hier gilt: Weltwirtschaftliche Liberalisierung – dies ist mein jahrzehntealtes Credo als alter „Tiers-Mondiste“ und Unctad-Experte – erzwingt eben auch global gültige Spielregeln mit sozialen und ökologischen Standards.

 

 

  1. Irrtum: Steuerung der globalen Arbeitsmigration durch die Wirtschaft statt durch die Politik

 

Der hier beschriebene dritte ökonomische Irrtum der Gegenwart ist gewissermassen die andere Seite der Medaille „Globalisierung“: Die Unterwerfung der Arbeitsmigration unter die liberalisierten Wirtschaftsinteressen.

 

Die grenzüberschreitende Wanderung von Menschen gehört an sich zu den humanen und politischen Freiheiten. Doch diese Freiheit wird zur Perversion, wenn sie zwingender Bestandteil eines Marktmodells wird, das die Arbeitsmigration zum Ausgleich von wirtschaftlichen Ungleichgewichten voraussetzt.

 

Um konkret zu werden: Die EU-Südstaaten Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, bald auch Frankreich, sind international nicht (mehr) konkurrenzfähig. Sie sind zu wenig produktiv und erzeugen Jahr für Jahr strukturelle Handels- und Zahlungsbilanzdefizite. Dies ist übrigens auch die strukturelle Ursache ihrer internationalen Verschuldung. Eigentlich müssten sie ihre Währung abwerten können, um international konkurrenzfähiger zu werden und ihre inländische Produktion gleichzeitig vor Billigimporten zu schützen. Doch das können sie durch ihre Einbindung in der Eurozone nicht mehr.

 

Als zweitbeste Lösung käme ein überregionaler europäischer Finanzausgleich in Frage, etwa in der Art des interkantonalen Finanzausgleichs in der Schweiz, um die regionalen Wachstumsdisparitäten zu korrigieren. Eine „Transferunion“, wie sie abschätzig bezeichnet wird, wird von den reichen EU-Ländern des Nordens politisch verunmöglicht. Die vorübergehenden Liquiditätshilfen durch die Europäische Zentralbank (die ich befürworte) sind zwar hilfreich, aber sie heilen die strukturellen Disparitäten nicht.

 

Was bleibt noch? Die letzte Ausweichmöglichkeit heisst: Die Menschen sollen wandern! Ich kenne Griechenland seit dreissig Jahren. Die korrupte und unfähige Elite des Landes will nur eines: Möglichst viele Junge sollen auswandern und dann harte Devisen heimschicken. Auch in andern Ländern Süd- und Osteuropas streben die Eliten dieses Businessmodell an. Deshalb kommt die Dogmatisierung der EU-Personenfreizügigkeit von diesen Regierungen.

 

Millionen-Migration soll also als Businessmodell dienen! Der „Produktionsfaktor Arbeit“ soll mobil bleiben – wie der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Die EU-Personenfreizügigkeit ist ein neoliberales Konzept, das ideengeschichtlich auf den Vorbeter des Antietatismus, Friedrich A.von Hayek, zurückgeht. Sein Vorschlag, längst vor der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt, bestand darin, durch grenzüberschreitenden Wettbewerb und „freie Mobilität der Produktionsfaktoren“ die nationalen, staatlichen Regulierungen zu unterlaufen. Jacques Delors, der 1985 als Kommissionspräsident der EWG die „vier Freiheiten“ konzeptionell übernommen hat, wollte aber gleichzeitig eine „Sozialunion“ schaffen, also eine Harmonisierung der Sozialbedingungen. Doch die fiel nach seinem Abgang der Liberalisierungswelle der 1990er Jahre gänzlich zum Opfer. Sie war von den Konzernen auch nie gewünscht worden.

 

Störend und wirtschaftspolitisch pervers ist nicht die Wanderung von Personen – die gab es immer schon -, sondern die erzwungene Millionenmobilität von Arbeitskräften ohne politische Steuerung, ohne bildungsmässige, kulturelle, sprachliche Flankierung, ohne Integrationsmassnahmen. EU-Migrationspersonen, die in der Schweiz oder einem EU-Staat verbleiben wollen, dürfen nicht einmal zum Erlernen der lokalen Landessprache verpflichtet werden, weil dies angeblich eine „Diskriminierung“ gegenüber Inländern darstelle. Eine Integrationssteuer für jene Unternehmen, die Ausländer rekrutieren, wie sie vorgeschlagen worden ist, ist wegen „Diskriminierung“ ebenfalls klar verboten. Migration wird nur noch durch die Unternehmen gesteuert, nicht mehr durch den Staat. Dieser faktische Migrationszwang lässt sich mit humanitären Argumenten sicher nicht rechtfertigen!

 

Diese (ökonomisch kaum angefochtene) Analyse in der Schweiz gerade jetzt zu äussern, fällt in eine politisch sensible Phase. Diese Beschreibung der Perversion des Marktdogmas möchte ich nicht als Ablehnung jeder Personenfreizügigkeit verstanden wissen. Aber Migration müsste flankiert werden durch Lohnschutzmassnahmen, Sozialausgleich unter den Staaten und Integrationsanstrengungen durch nutzniessende Unternehmen innerhalb der Staaten. Der Staat, nicht die Wirtschaft, sollte die Arbeitsmigration steuern: Keep Politics in Command! Das war lange Jahrzehnte der Konsens von Linken, Konservativen und Liberalen. Heute sind sie alle in dieser Frage ein wenig verirrt und heillos zerstritten.

 

Mein Fazit: Ohne flankierende Korrekturen wird Personenfreizügigkeit, auch wenn sie mit humanitärer Rechtfertigung kaschiert wird, zur unmenschlichen Perversion des Marktdogmas. Sämtliche Immigrationsländer wie die USA, Kanada, Australien – aber auch die EU gegen aussen – haben sich Limiten der Zuwanderung verschrieben. Angesichts der enormen Lohndisparitäten innerhalb Europas ist es bloss eine Frage der Zeit, bis auch die Europäische Union früher oder später ihr Dogma korrigieren wird. Der Druck von unten ist unverkennbar.

 

 

 

 

 

 

  1. Irrtum: Wissensgesellschaft erfordert mehr Akademisierung

 

Das Schlagwort vom unaufhaltsamen Trend zur Wissensgesellschaft ist ein Mainstream-Paradigma. Es wird falsch verstanden und von einer Bildungselite auch missbraucht.

Die These von der „knowledged-based society“ stammt von Daniel Bell aus den 1970er Jahren: Die moderne Wirtschaftsgesellschaft benötige immer mehr Fachwissen und immer weniger Handwerk, lautet die Theorie.. Die Produktion werde in „menschenleeren Fabriken“ automatisiert und sie solle, wenn sie Handarbeit erfordere, durch Outsourcing in Tieflohnländer verlagert werden. Jahrzehnte lang wurde dieses Mainstream-Axiom von den immer wieder wechselnden Managementdoktrinen gepredigt.

 

Die Industrieproduktion wurde so lange konsequent in Tieflohnländer verlagert, bis ehemals starke Industrienationen, allen voran die USA und England, ihre frühere handwerklich-industrielle Substanz verloren hatten und zu Handelsbilanz-Defizit-Ländern abstiegen.

 

Die Harvard Business School-Ökonomen Gary P.Pisano und Willy C.Shih beschreiben in ihrem Aufsehen erregenden Buch “Producing Prosperity. Why America needs a Manufacturing Renaissance“, wie die USA zunächst ihr qualifiziertes Handwerk und die Berufsbildung, danach die Fähigkeit zur schnellen Innovation mittels Herstellung eigener Prototypen und Pilotmodelle und schliesslich ihre industrielle Konkurrenzfähigkeit verloren haben. Sie plädieren für eine Wiedergewinnung von „Industrial Commons“, also der Qualifizierung von wechselseitig nutzbaren handwerklich-technischen Fähigkeiten mit Arbeitspräzision, Exaktheit, Zuverlässigkeit und Fertigungskunst, – Qualitäten, die an den Hochschulen kaum gelehrt und geprüft werden. Heute sind die USA zwar

top in der digitalen Revolution, aber gleichzeitig sind sie unfähig geworden, selber digital gesteuerte Automaten, Roboter oder Mikromessgeräte konkurrenzfähig herzustellen. Und Autos oder Haushaltgeräte aus Europa oder Japan gelten in den USA längst als technisch überlegen.

 

Der Trend zur „Wissensgesellschaft“ wird von einem Teil der Universitätsszene missverstanden und missbraucht. Sie setzt Wissensgesellschaft gleich mit Wissenschaftsgesellschaft und ruft nach mehr akademischer Bildung und immer mehr Staatsfinanzen. Unterstützt wurde sie durch die in der OECD dominante französische Bildungselite (z.B. mittels der OECD-Bildungssystematik, im Bologna-System und mit den Pisa-Ratings). Die Bildungselite hat sich mit ihrer Bildungsdoktrin ihre eigene Rechtfertigungswelt geschaffen und damit die kulturelle Herrschaft gesichert. .

 

Doch nach zwei, drei Jahrzehnten Akademisierungswelle zeigt sich: Gerade die Länder mit den höchsten Akademisierungsquoten stehen in der ökonomischen Performance und den Arbeitslosenquoten schlecht da. Das sind alle lateinischen Länder aber auch Grossbritannien. Sie stecken in der Akademisierungsfalle!

 

Demgegenüber haben es Länder mit einem Berufsbildungssystem geschafft, ihre Jugend besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, trotz hoher Löhne industriell konkurrenzfähig zu bleiben und auf eine hochpreisige Innovationsproduktion auszuweichen. Ich denke an Deutschland, die Schweiz, Oesterreich, Holland, Dänemark, Schweden. Das sind die Länder, in denen die Elite der KMU-Wirtschaft die Berufsbildung und die Qualifizierung der praktischen Intelligenz verteidigt hat.

 

 

Wissensgesellschaft bedeutet nicht Akademisierung, sondern dass immer neue Wissenselemente fast alle bisherigen Branchen und Berufe durchdringen. Es braucht zwar innovative Ingenieure, Forscher, , Prozessmanager, aber es braucht eben auch die hochqualifizierten Fachkräfte wie Polymechaniker, Monteure, Apparatebauer, Laboranten, Mechatroniker odertechnische Kaufleute, , die die Innovationen auch effizient umsetzen können. Länder, die die praktische Intelligenz nicht mit einer Berufsbildung qualifizieren und wertschätzen, stecken in der Akademisierungsfalle fest .

 

Das Fazit: Ein Trend zu mehr Wissens- und Innovationselementen in der Wirtschaft ist zwar unverkennbar. Der Irrtum der Gegenwart besteht darin, daraus immer mehr vollschulische Bildung und Akademisierung des Bildungssystems abzuleiten.

 

Länder, die im globalen Wettbewerb ihre gewerbliche Kompetenz weiter stärken und ihre industrielle Substanz konkurrenzfähig behalten wollen, setzen auf einen Mix von schulischer und praxisorientierter Ausbildung. Der in der Akademisierungsfalle verirrte Mainstream der Hochschulpolitik vieler Länder und vieler akademischer Protagonisten wird sich an der Realität korrigieren müssen – oder er wird durch wirtschaftlichen Abstieg abgestraft.

 

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Intro der Weltwoche-Redaktion:

An den linken Ökonomen Rudolf Strahm erging vor Monatsfrist der Auftrag, er

möge doch bitte über die aus seiner Sicht grössten wirtschaftswissenschaftlichen Irrtümer der Gegenwart und ihre Auswirkungen auf die Schweiz berichten. Zur grossen Freude der

Redaktion erklärte sich Strahm, sicher einer der klügsten und interessantesten Intellektuellen der Schweiz, nach kurzer Bedenkzeit bereit, sich der Herausforderung zu stellen. Er bat nur darum, den Text nach seinen Ferien abliefern zu dürfen. Das Resultat kann in dieser Ausgabe besichtigt werden. Strahm wird seinem Ruf gerecht als Denker,

der ausserhalb der eingeübten Schablonen schreibt. – Ihre Weltwoche.   30.10.2014

 

 

 

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