Kulturkampf in der Blocher-Falle

Kolumne in Tages-Anzeiger und Bund vom 7. April 2015.

 

Wir erleben derzeit einen regelrechten Kulturkampf der Historiker. Eröffnet wurde er zu Beginn des Jahres mit einer Fernsehdebatte unter dem Signet der «NZZ-Standpunkte» mit einem Geschichtsprofessor und zwei Publizisten. Die Herren diskutierten über die Bedeutung der Schlachten von Morgarten (1315), von Marignano (1515) und des Wiener Kongresses (1815). Unter sich waren sie sich einig; doch sie führten eine Auseinandersetzung mit einem Abwesenden. Kein einziges Mal fiel zwar sein Name, aber der Zuschauer spürte: der unsichtbare Geist von Christoph Blocher schwebte über und in den Köpfen. Man führte einen Kampf gegen die nationalkonservative, «vaterländische» Geschichtsdeutung. Sie war von Christoph Blocher lange vor dem Jubiläumsjahr vorgegeben worden.

Selbstverständlich sind die Schlachten- und Heldengeschichten der nationalkonservativen Geschichtsschreibung nicht historische Wahrheit, sondern instrumentalisierte Mythen, wie sie schon im 19. Jahrhundert zur Festigung des Bundesstaates in den Köpfen verankert worden sind. Die Historiker Thomas Maissen und André Holenstein bemühen sich zu Recht aber mit unsicherem Erfolg, damit aufzuräumen.

Dennoch ist es ebenso selbstverständlich, dass die moderne Geschichtsschreibung trotz rationaler Forschung diese Mythen nicht aus den Köpfen der Menschen bringen kann. Mythen sind auch eine Realität. Sie wirken geschichtsbildend, selbst wenn sie wissenschaftlich längst «widerlegt» sind. Jedes Volk hat Mythen; und jede Machtgruppe instrumentalisiert sie für ihre politischen Gegenwartsinteressen. Die herrschende Geschichtsschreibung war schon immer die Geschichte der Herrschenden – oder dann eben die der Gegenelite.

Herausragend am Kulturkampf des Jahres 2015 und der vorangehenden Jahre ist aber, dass der Takt und das Kampfterrain fast ausnahmslos von Christoph Blocher vorgegeben wurden. Eine intellektuell starke Prätorianergarde mit Roger Köppel, Markus Somm und Hans-Ueli Vogt sichern sein Territorium mit publizisitischem Sperrfeuer. Und unzählige Journalisten, Politologen, Publizisten, Schriftsteller, Professoren, Kolumnisten begeben sich aufs dünne Eis von Blochers Kampfterrain, wo sie dann oft einbrechen. Bei manchen von ihnen fragt man sich: Was hätten sie noch zu sagen, wenn Ihnen ihre Feindbilder Blocher und Nationalkonservatismus abhanden kämen?

Wer sich Rang und Namen der Intellektuellen-Szene zuschreibt, will – mit oder ohne Historikerwissen – bei den von Christoph Blocher gesetzten Themen mithalten. Wer sich an Blocher reibt, zählt sich zur «Szene». Und jeder, der ihn befragt, interviewt oder kommentiert, will einen Schimmer Glanz seiner Aura für sich. Blocher hat in fast allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen die Themenführerschaft. Nicht nur im Historikerstreit.

Linke und Nette

Es war im November 1993. Christoph Blocher war noch im Aufstieg und in seiner Fraktion noch in der Minderheit. In einem Zürcher Wald war die zwanzigjährige Pfadfinderin Pasquale Brumann ermordet aufgefunden worden. Die von Blocher präsidierte Zürcher SVP publizierte im Tages-Anzeiger ein Inserat, das zeichnerisch einen Messerstecher abbildete. Der Slogan dazu hiess: «Das haben wir den Linken und Netten zu verdanken». (Als «Nette» waren die Freisinnigen gemeint.) Dieses eine Inserat provozierte eine Flut von Protesten, Leserbriefen, Zeitungskommentaren und wurde mehrmals von den Redaktionen nachgedruckt. Christoph Blocher rechnete darauf seinen Parlamentskollegen stolz vor, mit einem einzigen Inserat habe die SVP Publizität im Wert von über hunderttausend Franken Inseratekosten hereingeholt – von der Presse gratis geliefert. Die ständige Empörung der Medien hat Christoph Blocher zum Charisma bei seiner Anhängerschaft verholfen.

Allerdings muss man im Rückblick auf diese Messerstecher-Affäre von 1993 ernüchtert feststellen, dass Blocher und seine SVP die Sicherheit im öffentlichen Raum und die Ängste bei einem Teil der Bevölkerung früher als alle anderen zum Thema gemacht haben.

Später in den Neunziger Jahren provozierte Blocher mit dem Kampfbegriff der «Scheininvaliden». Der Angriff auf die Invaliden und die IV war infam. Alle andern Parteien blockten die Kritik ab. Aber erst allmählich realisierte man, dass die IV-Praxis damals mit einer Zunahme von fast 5 Prozent IV-Fällen pro Jahr aus dem Ruder gelaufen war.

Man kannte in Gemeinden und Institutionen längst die Schwächen der Sozialhilfe und die zum Teil praxisfremde Ausbildung der Sozialarbeitenden in den Fachhochschulen. Doch niemand wagte die Mängel zum Thema zu machen. Nachdem die SVP einige krasse Vorfälle instrumentalisierte, gab es zunächst eine Abwehr mit Wagenburg-Effekt. Und so geht es immer wieder: Was von Blochers SVP kommt, wird zuerst reflexhaft bekämpft. Man steckt in der Blocher-Falle. Auch linke Politiker definieren sich und ihre Programmatik häufig bloss als «Anti-Blocher».

Der Geheimtip von Christoph Blocher war stets so: als erster ein Territorium politisch besetzen, einen Missstand skandalisieren und die Themenführerschaft behalten. Sobald ein Thema von der SVP besetzt wird, versteifen sich die anderen in der Blockade. Die Stärke der SVP ist eben auch die Schwäche der anderen!

Wo sind sie, die Intellektuellen, die eigene Themen jenseits von Blocher setzen? Wo sind die Exponenten der Politik, die unverkrampft vorhandene Probleme vorausschauend angehen und – vielleicht auch mal gegen den Katechismus der eigenen Partei – nach Lösungen suchen, bevor das Problem skandalisiert wird?

Ich denke, dass wir der Polit- und Kulturszene einen guten Dienst erweisen, wenn wir hie und da jene Kräfte suchen und stützen, die sich nicht von schnellen Reflexen in die Blocher-Falle treiben lassen. Denn es gibt kein Rezept, um Linke, Liberale, Intellektuelle, Publizisten vor solchen Polarisierungsfallen und Blockaden zu verschonen. Aber wenn sich viele immer wieder die Frage nach eigenen Themen stellen, ist das schon die halbe Lösung.

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