Strategien gegen den Strom der Armutsflüchtlinge

Mit Beklemmung und Hilflosigkeit verfolgen wir täglich das Drama der Flüchtlingsströme am Mittelmeer. Selbst erfahrene Experten sind bezüglich konkreter Lösungen beinahe hilflos. Man müsse die gescheiterten Staaten in Afrika stabilisieren, wird häufig gefordert – aber wie? Oder man müsse den Armutsflüchtlingen in ihrem Herkunftsland eine wirtschaftliche Perspektive geben – aber wodurch?

Tunesien ist in Afrika ein relativ reiches Land und verfügt über eine stabilisierte Regierung. Aber auch dort gibt es einen durch Armut bedingten Auswanderungsdruck. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 28, ähnlich wie in ganz Nordafrika. 70 Prozent der jungen Tunesier machen einen maturitätsähnlichen Schulabschluss, mehr als ein Drittel erwirbt ein Universitätsdiplom. Eine Berufslehre mit betrieblichem Praxiserwerb existiert nur ganz marginal.

Derzeit gibt es in Tunesien 350 000 arbeitslose Universitätsdiplomierte, die sogenannten «Chômeurs diplomés». Viele schlagen sich als frustrierte Gelegenheitsarbeiter in Hotels, mit Taxidiensten und auf arabischen Märkten durch. 140 000 Uniabgänger sind ganz erwerbslos. Die Unternehmer sagen, sie seien nach der Universität nicht brauchbar. Eigentlich möchten sie nach Europa abhauen. Im Gegensatz zum Nachbarland Libyen werden sie aber daran gehindert.

Tunesien ist, wie alle frankofonen Entwicklungsländer, Opfer des französischen Bildungssystems: Nur vollschulische Bildung zählt. Nur wer über ein Baccalauréat (Maturität) verfügt, gilt etwas. Praxisorientierte, handwerkliche Berufe haben ein soziales Stigma, sie sind reserviert für die untersten Schichten. Frankreich selber leidet deshalb an einer dramatischen Deindustrialisierung: Nur noch 11 Prozent der Beschäftigten sind in Frankreich in der Industrie tätig – halb so viel wie in der Schweiz und in Deutschland. Frankreich steckt in der Akademisierungsfalle. Vor drei Jahren hat die Schweiz unter dem Zwang der tunesischen Flüchtlingsströme eine Migrationspartnerschaft mit Tunesien begonnen. Der Schweizer Sonderbotschafter Eduard Gnesa reiste mehrmals nach Tunesien, Bundesrätin Simonetta Sommaruga als treibende Kraft besuchte letztes Jahr mit ihm die dortigen Schweizer Projekte. Resultat dieser konstruktiven Reisediplomatie ist ein heute funktionierendes Migrationsabkommen, das auch vorsieht, dass abgewiesene tunesische Asylbewerber nach Tunesien zurückgebracht werden. Als Gegenleistung finanziert die Schweiz mehrere Projekte zur Integration der arbeitslosen Jugendlichen. Denn Jugendarbeitslosigkeit ist das soziale Problem Nummer eins.

Swisscontact, die als einzige Entwicklungsorganisation noch systematisch die Berufsbildung fördert, hat in Tunesien viel versprechende Berufsintegrationsprojekte mit Bundesgeldern angestossen.

In eigens gegründeten Firmen werden arbeitslose Uniabsolventen – Frauen und Männer – in drei Monaten mit der betrieblichen Praxis vertraut gemacht, etwa in Buchhaltung, Bestellwesen, Personalkontrolle oder Marketing. Dazu üben sie auch Bewerbungsschreiben und Vorstellungsgespräche. Einer KV-Ausbildung nach unserem Standard entspricht es zwar nicht, doch hat das Programm Erfolg: Rund 80 Prozent der Swisscontact- Absolventen finden nach dem dreimonatigen Kurs eine feste Anstellung. Nicht wenige von ihnen eröffnen selber ein Geschäft.

In Südtunesien bildet Swisscontact neu in Zusammenarbeit mit Garagisten lokale Automechaniker in Autoelektronik und -diagnostik aus, damit ausländische Autofirmen nicht wie bisher Mechatroniker aus Europa mitbringen müssen. Nun müssten Bund und Swisscontact diese Pilotprojekte verzehnfachen, um eine Breitenwirkung zu erzielen.

Es gibt im tunesischen Unternehmertum kaum eine Berufslehre-Tradition. Schweizer Firmen in Tunesien wie etwa Calida, Bobst, Nestlé oder Roche müssten eingebunden werden. In der tunesisch-schweizerischen Handelskammer mit 70 Schweizer Firmenniederlassungen ist die Berufsbildung kein Thema; deren Direktorin wusste beim Besuch nicht einmal, was das ist. Demgegenüber hat die Regierung Deutschlands die Mitgliedsfirmen der deutschen Handelskammer in Tunesien längst für die Berufsbildung engagiert. Die Schweizer Botschafterin in Tunis ist Ehrenpräsidentin der tunesischschweizerischen Handelskammer. Sie muss die Chefs der 70 Schweizer Firmenniederlassungen an ihre Pflichten bei der betrieblichen Berufsbildung erinnern – die längerfristig das wirksamste Instrument zur Bekämpfung von Armut ist.

Weniger als 5 Prozent der Mittel der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit werden in Berufsbildung investiert. Die Deza muss neue Prioritäten setzen, sowohl geografisch – heute ist sie in Projekte in 68 Ländern verzettelt – als auch beim Schwerpunkt für die praktische Berufsbildung. Es wäre ein Exportschlager.

In ganz Afrika gibt es Hunderttausende von Universitätsabgängern, die nicht gemäss ihrer Bildung gebraucht werden, aber kaum Elektriker, Mechatroniker oder Spengler, die dem heutigen Standard der Technik gerecht werden. Die Entwicklungspolitik hat vergessen, dass Arbeitsmarktintegration für junge Leute entscheidend ist für die Stabilisierung einer Gesellschaft und längerfristig für die Verhinderung von Migration.

Die Diplomaten Deutschlands werden seit Jahren instruiert, das deutsche Berufsbildungsmodell in aller Welt bekannt zu machen. Die duale Berufslehre heisst deshalb in vielen Ländern «The German Model» (was mich immer ein wenig ärgert).

Viele Schweizer Botschafter haben keine Ahnung vom Erfolgsmodell der Berufslehre und deren Überlegenheit bei der Arbeitsmarktintegration. Dieses zu kennen und zu vermitteln, wäre für unsere Diplomaten heute vordringlicher als Bildung in Latein und Kunstgeschichte. Das EDA hat noch eine Hausaufgabe zu lösen.

 

>>Strategien gegen den Strom der Armutsflüchtlinge, Kolumne Nr.6 vom 28. April 2015.