Kolumen im Tagesanzeiger/Bund vom 20.02.2018
Um das Jahr 1830 gab es in der bernischen Gemeinde, in der ich wohne, einen wahrhaften Skandal: Eine ledige Frau, Elisabeth Sahli mit Namen, wurde schwanger, worauf das örtliche Chorgericht eingriff. Die schwangere Frau wurde enteignet und «verkostgeldet», das heisst fremdplatziert, und zwar bei dem Bauern, der am wenigsten Kostgeld verlangte. Ihre neugeborene Tochter Anna Sahli wurde der Mutter gleich nach der Geburt weggenommen und zunächst bei Verwandten und später bei einem fremden Bauern verdingt.
Zuständig für Moral und Recht war damals das von der Kirche und dem örtlichen Pfarrer dominierte Chorgericht. Dieses Sittengericht hatte damals etwa den gleichen gesellschaftlichen Machtanspruch wie heute in streng islamischen Ländern die Moschee oder die islamische Sittenpolizei.
Überall im Land gab es ähnliche Vorfälle. Doch solche Gerichtspraxis stiess im erwähnten Dorf bei den gebildeteren Bürgern und Gewerblern auf Unverständnis. Bald wurde eine «freisinnige Ortsgruppe» gegründet mit den erklärten Zielen: Abschaffung aller Chorgerichte, Einführung der Volksschule für alle sowie Handels- und Gewerbefreiheit.
«Das Thema Imam-Ausbildung bringt keine Popularität.»
Nach der Machtübernahme der Liberalen im Kanton Bern 1832 gründeten sie als Erstes das liberale, staatliche Lehrerseminar und die staatliche Universität mit einer liberalen theologischen Fakultät. In der Folge wurden die traditionellen Chorgerichtsgeistlichen innert einer Generation durch liberalere Pfarrer aus den theologischen Fakultäten ersetzt.
Dem Freisinn des 19. Jahrhunderts war die Ausrichtung der Lehrer- und Pfarrerausbildung ein zentrales Anliegen und er investierte auch in Kultur und Gesellschaft. Im zeitgenössischen, intellektuell schmalbrüstig gewordenen «Gössi-Freisinn» ist indes dieser Anspruch verkümmert und auf einen vulgären Wirtschaftsliberalismus reduziert.
Ich erwähne etwas verkürzt diese Episode aus dem liberalen Aufbruch in der Schweiz von 1815 bis 1848, weil sie ein historisches Lehrstück darstellt, wie der Staat mit religiösem Fundamentalismus und Machtanspruch umgehen kann: nicht mit Verboten, sondern mit Religionsfreiheit und Toleranz, diese aber mit einem bildungspolitischen Engagement in aufgeklärter Theologenausbildung.
Undurchsichtige Moscheen
Damit ziehe ich gewagterweise eine Parallele zum Umgang mit dem Islam in der Gegenwart. Wer weiss schon, was in den rund 300 Moscheen und Gebetshäusern vor sich geht? Es gibt keine Übersicht über die Anzahl der Moscheen und Imame. Sie beeinflussen das Gesellschaftsverständnis und Verhalten eines Teils der hiesigen islamischen Bevölkerung. Die Mehrheit der hier lebenden Muslime pflegt zwar ein eher liberales und moderates Islamverständnis. Aber eine islamistische Radikalisierung in Moscheen und durchs Internet ist auch erwiesen.
Die hiesigen islamischen Prediger und Imame werden mehrheitlich von schwerreichen wahabitischen und salafistischen Stiftungen in Saudiarabien oder von AKP-nahen Institutionen in der Türkei ausgebildet und bezahlt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) kann zwar den Aufenthalt von Imamen an zwei Bedingungen knüpfen: eine minimale Sprachkompetenz (Stufe B1) und eine Bleibeperspektive. Diese Anforderungen werden allerdings systematisch umgangen, indem fundamentalistische Prediger mit einem Touristenvisum zu den Moscheen kommen und später weiterziehen.
Was ich hier aufgreife, ist ein heisses Eisen und polarisiert die Meinungen. Das Thema Imam-Ausbildung bringt keine Popularität und wird in der Politik gemieden und verdrängt. Das zuständige Bundesamt für Justiz tut sich schwer mit einem Bericht, den das Parlament mit einem Postulat der Nationalrätin Maja Ingold verlangt hatte, und lässt auf sich warten.
Eine nationale Koordination fehlt
Religionspolitik ist laut Bundesverfassung Sache der Kantone. Doch die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK), die im November 2012 in einem feierlichen Akt den «Muslim-Dialog» vom Bund an sich gezogen hatte, hat seither kaum etwas bewegt – ein Schwächezeichen für den viel gepriesenen Föderalismus.
Das SEM finanzierte in einem Bundesasylzentrum in Zürich-Altstetten einen Pilotversuch mit muslimischen und andern Seelsorgern, der positive Resultate zeigte und demnächst ausläuft. Der Kanton Zürich setzte im Gefängnis Pöschwies an der Uni Bern vorbereitete Seelsorger für Muslime und andere Religionen ein. Gute Einzelansätze, aber es fehlt eine nationale Koordination und Führung.
Ausbildung von Praktikern
Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg organisiert wissenschaftliche Studien, Gastprofessuren und Workshops zu Islamfragen, aber es kann keine Imame ausbilden. Für ein Vollstudium in islamischer Theologie wären mindestens acht vollamtliche Professuren nötig. Die Absichten zum Ausbau der Ausbildung in islamischer Theologie in Freiburg, damals unterstützt von der schweizerischen Konferenz der Uni-Rektoren, wurden durch ein Referendum der SVP des Kantons Freiburg zunichte gemacht. Es kam nie zur Volksabstimmung.
Mehr Breitenwirkung verspricht die Anstrengung der Theologischen Fakultät der Universität Bern, die mit einem berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengang («CAS in Religious Care im Migrationskontext») islamische Seelsorger und andere religiöse Betreuer ausbildet, welche zum Beispiel in Gefängnissen, Asylheimen und Schulen einsetzbar sind.
Dieser Ansatz wird, wenn er weitergeführt werden kann, deshalb eine grössere Breitenwirkung haben, weil er eine Praktikerausbildung von unten her anvisiert. Religiöse Betreuung erfordert Praktiker. Die Initiantin des Berner Studiengangs, die Professorin für Praktische Theologie Isabelle Noth, hatte sich die Finanzen dafür aus knappen Drittmitteln und sogar aus den eigenen Vortragshonoraren zusammengekratzt.
Multikultur ist nicht sonderlich erwünscht
Ich denke, viele Bürger lesen dieses Plädoyer für eine Islampolitik mit einiger Beklemmung. Wie ist es dazu gekommen, dass unser vermeintlich «christliches» Land mit einer nicht sonderlich erwünschten Multikultur mit heute rund 360’000 Muslimen umzugehen hat? Auf diese religiöse und kulturelle Herausforderung war man nicht vorbereitet.
In der Migrationspolitik sind uns historisch sicher grosse Fehler unterlaufen. Aber nun stellt sich die Situation so, wie sie ist. Nun erfordert die Zukunft im Rahmen der verfassungsmässigen Religionsfreiheit eine aktive und weise Islamstrategie im Bildungssektor, auch bei der Ausbildung und Zulassung von Imamen und Predigern mit einem moderaten Islamverständnis.
Der Bund hat in seinem Nationalen Aktionsplan gegen Terrorismus vom Dezember 2017 dringende Forderungen zur Verhinderung der Radikalisierung in den Moscheen formuliert. Ein Laisser-faire käme womöglich teuer zu stehen: besser heute in eine Präventionsstrategie gegen Radikalisierung investieren als in Zukunft immer mehr teure Geheimdienste, Überwachungs- und Justizapparate finanzieren!