Griechenland ist jetzt ein Protektorat der EU

Dienstagskolumne Rudolf Strahm. Im Tages-Anzeiger (Zürich) und Bund (Bern) vom 21. Juli 2015.

Griechenland ist jetzt ein Protektorat der EU

Kolumne Rudolf Strahm

Das Aufatmen nach dem neuesten Griechenland-Abkommen wird nicht lange dauern. Nach der Sommerpause werden die alten Strukturfehler wieder auftauchen – jetzt noch verschärft durch unglaubliche politische Wunden. Kein einziges Problem ist gelöst worden, man wird weiterwursteln. Aber in Zukunft wird psychologisch eine Kluft Europa spalten.

Ab sofort müssen die Griechen den Finanzkontrolleuren von EU, EZB und IWF – den Funktionären der verhassten Troika – ungefragt und ungehinderten Zugang zu allen Ministerien in Athen gewähren.

Von nun an muss die griechische Regierung alle neuen Gesetze und Gesetzesänderungen vorgängig Brüssel unterbreiten, bevor sie diese dem Parlament vorlegt. In den nächsten Monaten sollte Griechenland zudem seinen Staatsbesitz wie Schiffshäfen, Eisenbahnen, Elektrizitätsgesellschaften, öffentliche Liegenschaften in einen von Brüssel mitverwalteten Staatsfonds einbringen. Dieser muss dann unter EU-Führung diese Infrastrukturanlagen an private, meist ausländische Investoren verkaufen und die Erlöse mindestens zur Hälfte für die Schuldentilgung verwenden. Auf deutschen Druck wurde in der Nacht der langen Messer vom 12. Juli ein unrealistischer Sollbetrag von 50 Milliarden Euro für diesen Fonds vorgegeben. Bisher waren innert vier Jahren nur gerade zwei Milliarden Staatsbesitz effektiv veräusserbar.

All diese neuen Verpflichtungen musste Griechenland zusätzlich zu weiteren Staatsausgabenkürzungen und Steuererhöhungen eingehen. Als Druckmittel der Gläubiger dient der Geldhahn. Griechenland ist zu einem Protektorat der EU geworden. Die linke Regierung Griechenlands stand vor der Wahl: Unterwerfung oder Rauswurf aus der EU.

Einmischung unter „Freunden“

Was wir von der Schweiz und von Deutschland aus nicht realistisch genug einschätzen, sind die historischen Wunden aus der Dominanz jener Nation, die Griechenland im zweiten Weltkrieg überfallen und zerstört hatte, ohne danach je eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Der deutsche Martin Schulz, ein politischer Wichtigtuer, missbrauchte seine momentane Rolle als EU-Parlamentspräsident, vor der griechischen Volksabstimmung die Regierung Tsipras öffentlich zum Rücktritt aufzufordern, wenn sie das Plebiszit verlieren würde. – Man stelle sich vor, wie wir Schweizer oder wie jede andere Nation auf solche „freundschaftliche“ Einmischung von Deutschen reagieren würden.

 

Was wir auch nicht richtig einschätzen, ist die ökonomische Rosskur, die die Griechen bisher durchmachen mussten. Gewiss, sie hatten auf orientalische Weise über ihre Verhältnisse gelebt. Und ja, ihre früher regierenden politischen und wirtschaftlichen Eliten waren unfähig und korrupt. Und ja, ihre Bildungseliten erkennen heute noch nicht, wie wenig ihre praxisfremde Ausbildung taugt. Aber Griechenland erhielt seine Milliardenkredite vor 2010 von den nordeuropäischen Banken angedreht, – und dies immer mit dem Segen der EU-Regierungen.

Die Rosskur: Seit 2010 sind die Altersrenten in Griechenland von 850 auf 500 Euro pro Monat gesenkt worden, die Lehrerlöhne von 1300 auf etwa 800 Euro. Und nun werden die Auszahlungen erneut gekürzt werden. Die Ausgaben des aufgeblähten, ineffizienten Staates sind bereits von 130 auf 90 Milliarden Euro zusammengestaucht worden. 350‘000 Staatsbeamte haben ihre Stelle verloren. Wenn die EU-Kommunikationsmaschinerie jeweils von „Nothilfe“und „Hilfspaketen“ an die Griechen spricht, sind – mit Ausnahme der früheren Kohäsionsgelder – nie EU-Finanzmittel geschenkt, sondern die neuen Kredite zu 89% zur Ablösung bisheriger Schulden eingesetzt worden. Neue Schulden ersetzten alte Schulden. Die deutschen und französischen Banken wurden durch Staatsmittel entlastet, doch der griechische Staat behielt seine Schulden.

Es ist systemlogisch, dass mit dieser Rosskur das griechische Bruttoinlandprodukt um ein Viertel einbrach und das Land nicht auf die Beine kommen konnte. Man hat der griechischen Wirtschaft die Luft abgeschnitten, und diese mit dem neuen Deal vom vorletzten Sonntag noch mehr eingeschnürt. Der IWF, der sich früher in Lateinamerika als stiller Würger manifestierte hatte, warnte allerdings die EU-Behörden schon 2010 vor einer ruinösen Schulden-Deflations-Spirale in Griechenland und verlangte einen teilweisen Schuldenerlass wie bei jedem Konkursverfahren. Und nur dank dem heute viel pragmatischeren IWF ist die griechische Forderung nach einem Schuldenschnitt nicht vom Tisch.

Diktatur der Inkompetenz

Die bisherigen Fehlleistungen der europäischen Finanzexperten sind heute manifest: Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sagte über die Troika: „Ich kenne keinen Fall in der Wirtschaftsgeschichte, dass eine Rezession derart vorsätzlich herbeigeführt wurde und derart katastrophale Folgen hatte.“ Und der einflussreiche US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman verhöhnte diese Diktatur der Inkompetenz: “Euro-Technokraten sind Fanatiker, die alles ausser Acht gelassen haben, was wir über Makroökonomie wissen.“

Diese historischen Fehlleistungen bedeuten einen wohl irreparablen Einschnitt in Europa. Wer aus dem sozialen Drama Griechenlands nicht Konsequenzen abzuleiten vermag, ist entweder inkompetent oder es fehlt ihm das soziale Gewissen. Die Sozialdemokratie in Frankreich und Italien ist auf Opposition umgeschwenkt; die deutsche SPD jedoch ist machtlos in der Macht gefangen. Und die schweizerische schweigt in allen Landessprachen.

Woher kommt denn diese ökonomische Unvernunft der europäischen Institutionen? Sie liegt im rechtlichen Mechanismus der Euro-Währungskonstruktion mit dem unverrückbaren Dogma des „Non-Bailout“, der Regel also, wonach ein Euro-Land nur mit Krediten, aber nie mit geschenkweisen Finanztransfers gestützt werden darf. Es fehlt in der Eurozone das, was wir im Währungsraum Schweiz als interkantonalen und interkommunalen Finanzausgleich kennen. Dieses Dogma ist auch der tiefere Grund, weshalb die Buchhalter Schäuble und Co nur den Grexit als Ausweg sehen: Ohne Austritt aus dem Euro ist ein echter Schuldenerlass unmöglich, bestenfalls eine verzögerte Tilgung der Auslandschulden. Aber die Erfahrung lehrt: Ein bankrotter Schuldner kommt nicht aus dem Schlamassel ohne Schuldenschnitt. Ich vermute, dass sich Schäuble letztendlich doch durchsetzen wird.

Das langfristig entscheidende Strukturdefizit in der Eurozone wurzelt allerdings viel tiefer: Die Produktivität und mithin internationale Konkurrenzfähigkeit zwischen den Nordländern –Deutschland, Holland, Dänemark, Österreich sind die industriell kompetitiven Berufsbildungsländer – und allen Desindustrialisierungsländern ganz Südeuropas und Frankreichs driften immer mehr auseinander. Der Norden erzielt ständig Überschüsse, der Süden Defizite. Die EU-Institutionen haben politisch nicht die Kraft zu einem innereuropäischen Finanzausgleich. Er bräuchte Einstimmigkeit aller Eurostaaten. Diese Strukturkrise wird Europa weiterhin lähmen.

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