Die Fallen der Statistik

Arbeitsmarktstudie Erhebungen zur Arbeitslosigkeit sind widersprüchlich und oft nicht zuverlässig – vor allem, wenn es um Jugendliche geht. Von Rudolf Strahm

Die diese Woche veröffentlichteArbeitsmarktstu­die der Konjunkturforschung KOF-ETH (TA von Dienstag) ist interessant – aber auch interpretati­onsbedürftig. Sie ruft nach einer Einschätzung jener Strukturfaktoren, welche die Studienauto­ren analysieren, aber nicht weiter benennen.

Die KOF-Studie kommt zum Schluss, dass «die Arbeitslosigkeit in der Schweiz von der Öffent­lichkeit unbemerkt gestiegen ist» und dass es sich «um einen Anstieg der strukturellen Arbeitslosig­keit handelt – also jener Arbeitslosigkeit, welche unabhängig von der konjunkturellen Situation existiert». Es interessiert natürlich in erster Linie, welche Strukturfaktoren den schleichen­den Anstieg antreiben. Die Autoren betonen aber, dass ihre «Studie keine kausalen Aussagen macht, sondern sich auf beschreibende Analysen beschränkt».

Aufgrund schon früher bekannter Arbeits­marktfaktoren ist man allerdings rasch in der Lage, eine wichtige strukturelle Ursache zu identifizieren: die Öffnung des Arbeitsmarkts mit der Personenfreizügigkeit ab 2003, vollständig ab Mitte 2007. Wenn man die Mikroökonomie des Arbeitsmarkts berücksichtigt, wird sofort klar: Seit Einführung der Personenfreizügigkeit ist es entschieden leichter, ohne Bewilligung und ohne Kontingente Personen im Ausland zu rekrutieren. Unzählige Personalvermittlungsfirmen, die im Ausland für schweizerische Firmen Fachpersonal suchen, haben sich seit 2007 installiert. In aller Stille entstand ein Verdrängungseffekt bei Inländern, der zu jenem erhöhten Risiko der Arbeits- oder Erwerbslosigkeit führte, welches die KOF-Autoren «wertneutral» feststellen. Die über Jahrzehnte hinweg steigende Sockelarbeits­losigkeit trotz massiv ansteigenden Beschäftig­tenzahlen ist ein weiterer Beleg für die Verdrän­gungseffekte.

Verwirrende Zahlen

Gewiss spielen auch andere, weniger ins Gewicht fallende Faktoren mit: etwa der Trend, dass Jugendliche nach dem Lehrabschluss und neu vermehrt auch Hochschulabsolventen ohne Berufspraxis mehr Mühe mit der Arbeitsintegra­tion haben. Oder dass Ausgebildete dem techno­logischen Wandel nicht rasch genug folgen können.

Für das breite Publikum muss klar gestellt werden, warum in der Schweiz zwei divergie­rende Statistiken zur Arbeitslosigkeit zustande kommen. Die «Arbeitslosenquote» des Seco basiert auf den Anmeldungen bei der Regionalen Arbeitslosenvermittlung RAV. Sie ist ein Totalzensus und nicht irgendwie hochgerechnet. Aber sie erfasst nur die registrierten Arbeitslo­sen; die Ausgesteuerten zum Beispiel werden nicht erfasst.

Die «Erwerbslosenquote», die der KOF-Studie zugrunde gelegt wurde, basiert auf einer telefonischen Umfrage bei je ca 30 000 Personen pro Quartal. Während zwei Quartalen werden die gleichen Adressen befragt, darauf neue 30 000 Adressen in den nächsten zwei Quartalen. Pro Jahr werden also 60 000 Personen in etwa 120 000 Telefoninterviews befragt. Das ist weniger als ein Prozent aller Erwerbspersonen. Von diesem einen Prozent werden die Resultate auf die Gesamtzahl von 5,2 Millionen Erwerbs­personen hochgerechnet. Der Variationsspiel­raum wird unterschätzt, weil zum Beispiel die Handybesitzer ohne Festnetzanschluss kaum erreichbar sind. Schweizerische Jugendliche oder Neuzugewanderte aus Portugal oder dem Balkan etwa, die sich den Luxus eines Festnetzanschlus­ses ersparen, sind nicht repräsentativ erfassbar. Ihre Erreichbarkeit hat sich in den letzten Jahren stark verändert, was Langzeitanalysen unbrauch­bar macht.

Diese zweite Erhebungsmethode, die sogenannte Schweizerische Arbeitskräfteerhe­bung SAKE, lehnt sich an die Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO an und ist höchst umstritten. Als Erwerbstätig nach ILO gilt jemand, der eine einzige Stunde pro Woche bezahlte Arbeit leistet! Von 1991 bis 2001 galt noch die Norm: 6 Wochenstunden. In der zwanzigjährigen Langzeitanalyse der KOF-Studie ist also ein statistischer Bruch in der Definition versteckt.

Problematisch ist auch die Definition der Erwerbslosigkeit nach SAKE, die der KOF-Studie zugrunde gelegt wurde. Als Erwerbslose gelten Personen zwischen 15 und 74 Jahren, die in der Befragungswoche nicht erwerbstätig waren, in den vorangegangenen vier Wochen eine Arbeit gesucht hatten und bei der Befragung sofort arbeiten könnten. «Suchen Sie Arbeit?», «Sind sie in der Lage, sofort eine Arbeit zu beginnen?» lauten die telefonischen Fragen der SAKE.

Unberechenbare Jugendliche

Kein Wunder, dass durch diese Befragungen die Erwerbslosenquoten bei den Jugendlichen jeweils vom zweiten zum dritten Quartal das Jahres hochschnellen – oft auf über 10% im September (was sofort zu einem Medienlamento Anlass gibt), danach aber wieder um ein Drittel oder die Hälfte sinken. Der Grund: Nach dem Abschluss der Lehre, der Maturität oder der Hochschule im Sommer gönnen sich viele Jugendliche eine Auszeit für Ferien, Reisen oder Militärdienst.

Die Jugenderwerbslosenquoten nach SAKE sind beliebig und wenig brauchbar für die Beurteilung des aktiven arbeitsmarktlichen Verhaltens Jugendlicher.

Ich teile die Auffassung der KOF nur bedingt, dass die SAKE-Zahlen zuverlässiger seien. Sie können zwar relative Veränderungen und gewisse Potentiale abbilden. Aber die aktive Anmeldung beim RAV, auf der die registrierte Arbeitslosigkeit nach Seco basiert, ist für das effektive Arbeitsmarktverhalten relevanter. In dieser Statistik aufgrund einer Vollerhebung ist auch die Arbeitslosigkeit nach Branchen und Berufsgruppen feststellbar.

Allerdings verschwinden Personen über 50, die entlassen worden sind und nie mehr eine feste Anstellung erhalten, aus beiden Statistiken, sowohl aus den RAV-Arbeitslosenzahlen des Seco wie auch aus den Erwerbslosenstatistiken der SAKE. Einzig aus der BFS-Erwerbsquote kann man hochrechnen, dass ab 55 Jahren mit jedem Jahrgang etwa 6000 Arbeitnehmende pro Jahr aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden und in der Statistik nicht mehr auftauchen. Deshalb kann die KOF-Studie den Verdrängungseffekt der älteren Personen nicht mehr im Fokus behalten.

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