Die Sozialdemokratie zwischen alten Idealen und neuen Realitäten. Essay über aktuelle Probleme linker Politik.

Essay von Rudolf Strahm, in: „Die Weltwoche“ Nummer 31/32 vom 30. Juli 2015. Seiten 36-39. Spezialausgabe.

Vor der Geschichte kann die schweizerische Sozialdemokratie gut bestehen. In diesem konservativen, bürgerlichen Land hat sie nie eine Mehrheit erringen können; und dennoch gelang ihr, aus einer Minderheitsposition den Sozialstaat schrittweise während eines Jahrhunderts aufzubauen.
In den 1930er Jahren widersetzte sie sich geschlossen dem Nationalsozialismus, während sich bürgerliche Parteien bei dessen Aufstieg zunächst gefährlich anfällig zeigten. Gegenüber dem Stalinismus war sie seit den 1920er Jahren weitestgehend immun, obschon das Bürgertum sie propagandistisch stets in die Nähe des Kommunismus zu rücken versuchte. Die geistige Enge des Zweiten Weltkriegs hat sie früher überwunden, die Dritte-Welt-Problematik früher wahrgenommen und neue Paradigmen wie die Frauenfrage und die Ökoproblematik früher erfasst als die Anderen. Sie war immer auch Verteidigerin der funktionierenden öffentlichen Infrastruktur, die die Schweiz so attraktiv macht. Die Kapitalfluchthilfe und Geldwäscherei des Schweizer Finanzplatzes hat sie drei Jahrzehnte früher angeprangert, bevor die Schweiz auf internationalen Druck hin ihren Finanzplatz in Ordnung bringen musste. Und nicht zuletzt hat sie trotz aller historischen Flügelkämpfe den inneren Zusammenhalt einigermassen bewahrt.
Sieben Jahre war ich in jungen Jahren Zentralsekretär der Partei, später 13 Jahre eidgenössischer Parlamentarier, wohl über ein viertel Jahrhundert Mitglied des schweizerischen Parteivorstands der SP. Ihre Entwicklungen von der Arbeiter- zur postmaterialistischen Mittelschichten-Partei habe ich mitverfolgt und mitgeprägt.
Wenn ich wunschgemäss in dieser Zeitschrift für die bürgerliche Leserschaft die Gegenwartsprobleme der Sozialdemokratie beschreibe, dann soll dies der Erklärung von Entwicklungen und nicht der politischen Auseinandersetzung dienen. Ich präsentiere hier eine Analyse und keine Vorschläge. Keine Partei liebt besserwisserische Vorschläge von Veteranen, die keine Verantwortung mehr tragen.
Die Sozialdemokratie ist – wohl in ganz Europa – in einem Dilemma zwischen alten Idealen und neuen Realitäten. Der Historiker Peter Hablützel sprich von einer „tragischen Situation“. Die Welt hat sich verändert, die linken Ideale lassen sich nicht mehr einfach im traditionssozialistischen Verständnis auf die Wirtschaftswirklichkeit anwenden. Ich zeige dies hier anhand von drei neuralgischen Themenfeldern: Erstens hat die Sozialdemokratie als historische Sachwalterin des Sozialstaats Mühe mit dem Vollzug der Sozialpolitik. Zweitens steckt sie in der kulturellen Falle eines elitären Bildungsverständnisses. Und drittens wird sie herausgefordert und arg umgetrieben von der Migrationsfrage im Zeichen der Globalisierung.
Warum scheue ich mich nicht, gerade diese drei besonders sensiblen Problemfelder zu beleuchten? Die drei Themen sind bei der Wählerschaft verhaltensleitend und imageprägend! Sie sind emotional aufgeladen, greifen in existenzielles Erleben und werden hochgradig polarisierend abgehandelt. Man könnte auch über Nachhaltigkeit und Wachstum, über Verteilungsfragen, Globalisierung, die Finanzierung des Alters oder Staatstrojaner reflektieren, aber solche fundamentalen Wertfragen bestimmen das Wählerverhalten viel weniger.

 
Falle 1: Im Dilemma zwischen Eigenverantwortung und Sozialstaatsidee
Aus einer stetigen Minderheitsposition heraus hat die schweizerische Sozialdemokratie innert Jahrzehnten mit geschickten Koalitionsstrategien die Leistungen aller Sozialwerke auf 27% des Bruttoinlandprodukts – unter Einschluss der Zweiten Säule auf 31% – hochstemmen können. (Diese Sozialleistungsquote ist allerdings tiefer als im übrigen Westeuropa.)Die Umverteilung mit der Sozialpolitik entschärfte die Klassenfrage. Und heute wirken diese Finanzmittel als eingebauter Konjunkturstabilisator, auf den niemand verzichten möchte. Zynisch vermerkt, die Sozialdemokratie hat geholfen, den Kapitalismus zu „retten“.
Das traditionelle Sozialstaatsverständnis ging aus von einem Wertesystem, das sich an der (männlichen) Arbeitsgesellschaft orientierte: Jeder soll arbeiten, und wer unverschuldet in Armut fällt, soll mit seiner Ehefrau und Familie Unterstützung durch die Sozialwerke erhalten.
Doch die Gesellschaft hat sich gewandelt. Die gesellschaftlichen Werte orientieren sich nicht mehr nur an der Erwerbsarbeit. Wir haben Gruppen in der Wohnbevölkerung, die qualifikationsmässig nicht mehr arbeitstauglich sind, und solche, die die Arbeit aktiv meiden, oder solche, die von ihrer Herkunft her die sozialstaatlichen Einrichtungen ausnützen und ausreizen. Kurz, wir haben auch Drückebergerei und Sozialstaatsmissbrauch. Das linke Sozialstaatsverständnis hat die Frage der Eigenverantwortung zusehends ausgeblendet.
Wir haben eine Durchmischung der Wohnbevölkerung mit Personen, die ein ganz anderes Staatsverständnis pflegen. Rund 60% aller Sozialhilfeempfänger haben einen Migrationshintergrund. Von den anerkannten Flüchtlingen und den vorläufig aufgenommenen Asylbewerbern (VA) in der Schweiz – beiden Gruppen wäre die Arbeitsaufnahme erlaubt – beziehen derzeit 87% Sozialhilfe. Eine solche Situation ist politisch eine Zeitbombe.
In gewissen Ländern gehört es zur gesellschaftlichen Norm, dass ein Mann mit Familie im Alter von über 50 nicht mehr arbeitet, sondern die Rolle des Familienpascha einnimmt. In andern Herkunftsländern betrachtet man den Staat als „Milchkuh“, die es nur auszunützen gilt. Viele Migrationspersonen kennen den Staat bloss als eine Instanz, die die Bürger betrügt, und die auch von den Bürgern betrogen wird, wo immer es möglich ist. Wie soll nun die Sozialpolitik bei uns umgehen mit derart abweichenden Wertesystemen umgehen?
Es gibt keine grössere Infragestellung der Sozialstaatsideale als manifest gewordene Missbräuche. Es mögen Einzelfälle sein, aber die Menschen lernen induktiv; die Meinung bildet sich aus Einzelfällen. Die Linke, die den Sozialstaat verteidigt, hat durch diesen Wandel die Themenführerschaft teilweise der Rechten abgegeben, an jene, die mit fallweisen Anprangerungen das Terrain besetzen.
Die Konzeption „Fördern UND Fordern“ ist vernachlässigt worden. Die Linke bekämpfte im Parlament eine obligatorische Integrationsvereinbarung für Migrationspersonen, mit der man zum Beispiel Nachholbildung und Integrationsanstrengungen individuell fordern würde. Sie bekämpfte einen obligatorischen, frühzeitigen Kindernachzug mit sechs oder acht Jahren, um Migrantenkindern eine Frühsozialisation zu ermöglichen. Alles Vorschläge des Bundesrats! In der Romandie heisst dies „Assimilation“ und die gilt als Schimpfwort.
Ausgerechnet der welsche Linke Pierre-Yves Maillard, der sich früher als SP-Jungpolitiker als Wadenbeisser gegen die „Blairisten“ und „Schröderisten“ in der Sozialdemokratie hervorgetan hatte, reformierte jüngst als nunmehr gereifter Waadtländer Staatsrat das Verhältnis von Fördern und Fordern: Er senkte für Jugendliche die Sozialhilfezahlungen massiv – unter Verletzung der Skos-Richtlinien – und gleichzeitig erhöhte er – ebenfalls unter Verletzung der interkantonalen Stipendienregeln – die Ausbildungsbeiträge für jene arbeitslosen Jugendlichen, die eine Berufslehre absolvieren. „Entweder du machst eine Ausbildung oder du kriegst kein Geld mehr vom Staat!“ Das Waadtländer Berufsintegrationsmodell „Forjad“ ist zu einem Erfolgsmodell geworden. Es zeigt: Ohne klare Anforderungen zu stellen, ohne Pflichten zur Nachholbildung und Berufsintegration geht nichts. Die traditionelle Sozialpolitik hat einen Nachholbedarf.

Falle 2: Kulturelle Entfremdung durch ein elitäres Bildungsverständnis
Die Sozialdemokratie war zusammen mit den Liberalen treibende Kraft für die Öffnung der Hochschulen. Gymnasium und Hochschulstudium seien die soziale Aufstiegsleiter für Mittel- und Unterschichten, wurde proklamiert. Wir Kinder aus diesen Schichten konnten über die Mittel- und Hochschule die altbürgerliche und quasifeudale Bildungselite ein- oder überholen.
Doch auch die Bildungslandschaft hat sich verändert. Die Bildungsszene wurde zur Kampfzone. In polarisierten Kantonen, etwa in Zürich, können sich vornehmlich die Kinder der Reichen die nötigen Privatstunden leisten, um die Gymnasiumsprüfungen zu bestehen und – oft unter Qualen – das „Gymi“ zu bewältigen. Bildungszugänge und politisch diktierte Frühsprachencurricula sind zum neuen sozialen Selektionskriterium geworden. Die Bildungslandschaft hat eine kulturelle Spaltung der Gesellschaft verstärkt. Die Polarisierung, etwa um „Harmos“, um den „Lehrplan-21“ oder um Hochschulkredite, ist ein Ausdruck dafür.
Die ländliche Wirtschaftselite, Gewerbler und KMU-Chefs, hatte ihre Karriere mit einer Berufslehre begonnen. Ebenso ein Grossteil der Facharbeiter und mittleren Kader. Demgegenüber sind die tonangebenden urbanen Mittelschichten akademisch geprägt. Schleichend haben sich zwei Bildungskulturen auseinanderbewegt: die ländlichen Schichten entwickelten sich auf die nationalkonservative Seite, die städtisch-urbanen eher ins links-grüne Lager. Zahlreiche ländliche SP-Sektionen, in der die Arbeiterschaft früher organisiert war, sind eingegangen oder auf die gebildeten Mittelschichten zurückgeschrumpft.
Auch die meist akademisch gebildeten Gewerkschaftskader finden nicht die Sprache der aufstiegswilligen Facharbeiter. Am ehesten vermögen sie noch die Migrationsarbeiter aus der proletarischen Kultur Südeuropas zu mobilisieren, während die aufstiegsorientierten Schweizer Arbeiter zu den Angestelltenverbänden wechselten oder nicht mehr organisiert sind.
Diese Bildungskluft schafft unterschiedliche Sprachen und entfremdet die Kulturen. Die Linke hat nicht bemerkt oder mit Beklemmung zugeschaut, wie sich ein Teil ihrer „Basis“, die sie stets zu vertreten meinte, entfremdet hat.
Es ist nicht falsch, wenn die Sozialdemokratie auch auf die höhere Bildung setzte. Aber sie hat – wenige verlorene Exponenten ausgenommen – die verständliche Sprache verloren und die Betroffenheit der nichtakademischen, vorwiegend ländlichen und vorstädtischen Schichten ignoriert. Was viele nicht verstanden und nicht verstehen: Diese Entfremdung ist nicht bloss politisch im Wählerverhalten manifest. Sie geht viel tiefer: Es ist eine sprachliche, kulturelle und vertrauensbezogene Entfremdung! Wenn ich darüber spreche, werde ich von der Bildungselite oft schlicht nicht verstanden.
Falle 3: Zwischen Migrationsakzeptanz und Migrationszweifel
Diese eben formulierte Problemlage lässt sich am stärksten in der Migrationsproblematik dokumentieren, die die Linke (und ebenso liberal-bürgerliche Kreise) umtreibt. Die Linke war immer internationalistisch. Fremdenfeindlichkeit hat sie stets mit Abscheu bekämpft; – besonders verstärkt nach James Schwarzenbachs erster Initiative (1970) und noch vehementer nach Christoph Blochers Aufstieg (nach 1992). Heute steckt die Linke irgendwie in der „Blocher-Falle“: Als „links“ gilt oft einfach das „Gegenteil von Blocher“; damit errang Blocher noch mehr Themenführerschaft.
Diese unheilvolle Polarisierung hat der Linken die Sicht auf die veränderten Migrationsverhältnisse verstellt: Man übersah, dass die Asylmigration auch eine Armutsmigration geworden war, die mit dem Asylbegriff der Menschenrechtserklärungen nicht mehr abgedeckt ist. Man übersah, dass die Asylszene zu einem organisierten Business geworden ist, angefangen bei den organisierten Schlepperbanden bis zur Rechtsanwälte-Szene, die die rechtsstaatlich an sich korrekten Verfahren bis zum äussersten ausreizen.
In der Personenfreizügigkeit ist die Sozialdemokratie in die absurde Lage gedrängt worden, die freie Personalrekrutierung im Ausland durch die schweizerische Arbeitgeberschaft zu verteidigen. Absurd deshalb, weil es ja nie Ziel der Linken war, die Zuwanderung allein durch die Arbeitgeberinteressen zu steuern.
Auch die linken Politiker und Gewerkschaftskader haben die beruflichen Verdrängungseffekte bei Inländern durch billigeres ausländisches Personal nicht wahrgenommen. In den hochorganisierten Branchen, beim Bau etwa, behalf man sich mit Lohnkontrollen, sogenannt „flankierenden Massnahmen“. Die Verdrängung von über 50-Jährigen konstatierte man erst, nachdem manifest geworden war, dass die Masseneinwanderungsinitiative 2014 von den 50- bis 60-Jährigen zum Ja gekehrt worden ist. Man reagiert jetzt mit der Forderung nach einer „positiven Diskriminierung“ mit einem Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmende über 50. Er könnte sich kontraproduktiv auswirken: Welcher Arbeitgeber würde das Risiko noch eingehen, über 50-Jährige fest anzustellen?
Man ignorierte das Problem der ungleichen Bildungsgänge zwischen dem In- und dem Ausland, man unterschätzte die fehlende Titeläquivalenz, von der jährlich tausende einen subjektiven Nachteil der Personenfreizügigkeit empfinden. Man ignorierte die harte Konkurrenzsituation zwischen ausländischen Fachkräften und Inländern in den Betrieben, Spitälern und Hochschulen, oder die mangelnde Sozialpartnerschaft ausländischer Manager. Kurz, ein beträchtliches Potential von Arbeitnehmenden und potentiellen SP-Wählern verlor vermutlich deshalb auch Vertrauen gegenüber dem Staat und der Sozialdemokratie.
Keine Verbürgerlichung gefragt
Ich bin nicht der Meinung, dass sich die SP „verbürgerlichen“ soll. Ich bin nicht der Meinung, dass ihr Platz in der (ohnehin umkämpften) politischen Mitte sein soll, wie es gut- und bösmeinende bürgerliche Schreiber ihr nahelegen. Sie bleibt in der Auseinandersetzung um die soziale Verteilung ein unverzichtbarer Pol. Aber sie sollte das Territorium von links her besetzen: mit einer Sprache, die die Leute verstehen, mit Forderungen, die an deren existenziellen Erfahrungen anknüpfen, mit einem stärkeren Realitätsbezug, etwa – wie hier beschrieben – in der Sozialpolitik, der Bildungspolitik und der kaum je lösbaren Migrationsproblematik.