Der Volkspädagoge

Portrait im “das Magazin” vom 22. August 2014

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Kaum ein Linker findet so viel Resonanz in der Bevölkerung wie Rudolf Strahm.

Nur in seiner eigenen Partei ist er unbeliebt. Warum?


Text  MARTIN BEGLINGER
Bild  ANDRI POL
Über Privates spricht er ungern, und auch der Hausbesuch eines Journalisten ist ihm zunächst nicht geheuer. «Aber i wott de ke Homestory!» Das wäre auch nicht sehr ­ergiebig. Sein kleines Reihenhaus in der Berner Vorortsgemeinde Herrenschwanden ist rasch beschrieben. Aussen von üppigem Grün überwuchert, innen bis unters Dach mit Papier gefüllt – Bücher, Ordner, Mappen, alles sorgsam geordnet und beschriftet. Nun stehen noch ein Spielzelt im Wohnzimmer und ein Kinderbett im Büro, seit er «Nonno» ist und einmal pro Woche seine Enkelin hütet.

«Ich bin jetzt Veteran», kokettiert Rudolf Strahm, der frühere SP-Nationalrat und Preisüberwacher. Sein Haar ist schlohweiss, aber mit seinen 71 ist er drahtig wie mit 31 und packt jeden Tag, als wärs sein letzter. Um neun hat er die tägliche Joggingrunde im nahen Wäldchen längst abgespult. Zudem geht er wahlweise schwimmen, wandern, tauchen, im Herbst in die Wüste, im Winter aufs Eis und einmal pro Monat – wer würde das vermuten – auf den Tanz (früher Afro, heute Oldies aus den Sixties).

Doch in den letzten Monaten war wenig Zeit dazu. Er musste schreiben, sein neues Buch zu Ende bringen, unbedingt! Es heisst «Die Akademisierungsfalle» *, ein Herzensthema, aber das sind ohnehin alle seine zwölf Bücher – wie auch jede einzelne Kolumne, die er für den «Tages-Anzeiger» und den «Bund» schreibt.

 

Hundert Auftritte – pro Jahr
Und das ist längst nicht alles: Der Mann hält Vorlesungen an den Universitäten Bern und Freiburg, er gibt Weiterbildungskurse an Schulen, alles in allem ist er gegen hundertmal pro Jahr im Land unterwegs, um Leute aufzuklären, sie mit Zahlen, Grafiken, Argumenten von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen.

Wer all dies auf sich nimmt, muss ziemlich getrieben sein, ein Missionar gar. Rudolf Strahm bevorzugt einen andern Begriff. Er versteht sich als Aufklärer, als «Volkspädagogen», wie er sich selber einmal nannte. Das heisst zunächst: Fakten vor Ideologie. Und es heisst nicht zuletzt: «Kein akademisches Geschwurbel. Ich will verstanden werden.»

Das wird er, oben wie unten. Seine direkte, kraftvolle Sprache kommt an. Strahm wird gehört wie kaum ein anderer politischer Kolumnist in der Schweiz. Er diskutiert im kleinsten Kreis mit Bundesrätinnen, er trifft regelmässig Regierungsräte, Chefbeamte und manchmal auch Grossbankpräsidenten zum vertraulichen Gespräch. Zugleich erhält er Aberhunderte von Mails und Briefen, und Tausende liken seine Kolumnen auf den Onlineforen.

Nur die Exponenten seiner eigenen Partei mögen ihn gar nicht. Entweder sie schweigen, oder sie schimpfen. Präsident Christian Levrat stellt sich taub, wenn der Oberlehrer Strahm sich meldet, andere weichen aus. Es gibt beinah schon einen Anti-Strahm-Re­flex in der Partei, und man könnte den Rest dieses Artikels problemlos mit den Krächen füllen, die Strahm früher mit Peter Bodenmann ausfocht und später mit der machtbewussten Susanne Leuten­egger Oberholzer, genannt SLO, die fraktionsintern noch schärfer austeilt als früher Bodenmann, ihr langjähriger Buddy in Bern. «Peterli, du abgschlag­ne Lügner!» – «Rüedu, du hüere Protestant!» Und SLO sagte es einmal so (in der «Tageswoche»): «Gegner wie Strahm waren ein totaler Ansporn, mich zu behaupten.» So tönte das unter Parteifreunden, es waren Jahre der Führungs- und Richtungskämpfe, Jahre voller Gift und Galle.

Ausserhalb seiner Partei mochte er noch so gut ankommen, innerhalb hatte er nie grosse Karrierechancen, weder als Fraktionschef noch als Regierungsrat. «Zu wenig linke Rhetorik», meint er.

Doch es ist nicht nur das. Es geht auch um Inhalte. Die Parteilinke lastet Rudolf Strahm eine entscheidende Mitschuld an zwei historischen Niederlagen an. Die erste war die EWR-Abstimmung 1992, die «Blochers halblinker Schneepflug» (Bodenmann) mit seiner EWR-skeptischen Analyse «Europa-Entscheid» zu Fall gebracht habe. Mit diesem Buch, sensationelle 40 000 Mal verkauft, konnte Strahm sein Reihenhaus abzahlen, aber es kostete ihn sämtliche Sympathien der linken EU-Befürworter.

Die zweite Abstimmung war jene vom 9. Februar 2014 über die Masseneinwanderung. Strahm schrieb eine einzige Kolumne dazu und gab ein Interview, worin er sich zwar nicht direkt zu einem Ja bekannte («das hätte ich Blocher nicht gegönnt»), aber er lieferte seine linken Argumente gegen einen «völlig liberalisierten Personenverkehr». Das Wesentlichste: Der Bundesrat unternehme nichts, um die realen Sorgen der Bevölkerung wegen der starken Zuwanderung zu entschärfen.

 

Die Hinrichtung
Nun gab es kein Halten mehr gegen den «Emmentaler Täuferbuben». Ein einziger «Blocher’scher Erguss!» sei das, «SVP-Politik mit allen Ressentiments!», «Rassistisch!», giftete die Chefredaktorin der Ge­werkschaftszeitung «Work» gegen ­Strahm, der früher selber einmal Gewerkschaftsfunktionäre ausgebildet hatte. Strahm war gekränkt wie selten und wähnte sich in einem politischen Schauprozess – eine journalistische Hinrichtung zwecks Abschreckung von Gleichgesinnten. Es war nur ein halber Trost, dass seine Mailbox gleichzeitig mit Glückwünschen und Durchhalteparolen überquoll und ihm ein Unia-Funktionär hinterher gestand: «Die Hälfte meiner Leute hat Ja gestimmt.»

Diese Attacken zeigen vor allem eines: Dem Veteranen Strahm wird offensichtlich ein Einfluss zugeschrieben wie kaum einem amtierenden SP-Parlamentarier.

«Ich werde überschätzt», sagt Strahm dazu. Aber man merkt sofort, dass er das selber nicht glaubt, so zögerlich sagt er es. Er weiss sehr wohl um seine Wirkung. «Wenn ich ins Volk rufe, dann glaubt man mir mehr als Levrat!», hielt er anderen Genossen auch schon in heiligem Zorn entgegen.

Klar, umpolen kann er niemanden. So schrieb er sich zum Beispiel die Finger wund für die Mindestlohninitiative – völlig chancenlos. Aber er kann Meinungen verstärken. «Das dachte ich schon lange, endlich schreibts mal einer»: Diese Reaktion hört er oft, vor allem aus dem traditionell sozialdemokratischen und dem moderat bürgerlichen Publikum, und dieses spielt an der Urne oft eine entscheidende Rolle.

Jetzt also das neue Buch: «Die Akademisierungsfalle». Es ist ein Lob auf die Berufsbildung, auf den ersten Blick nicht grad ein Aufregerthema, doch in den 230 Seiten steckt Zunder. Er ahnt, dass allein schon der Titel neuen Zoff absetzen dürfte. Es wäre nicht das erste Mal, auch unter echten und nicht nur unter Parteifreunden.

Einige von ihnen, die er jeden Dienstag zum Nachtessen trifft, darunter Akademiker aus dem Bildungsbereich, waren schon 2011 stinksauer, als Strahm im «Magazin» das Buch «Handwerk» des Soziologen Richard Sennett lobte. Endlich hatte mal ein hoch respektierter In­­tellektueller die praktische Intelligenz der Handarbeiter gepriesen und den aka­demischen Bildungskatechismus infrage gestellt. Strahm schrieb: «Unsere Bildungspolitiker, die sich in ihrer Hilf­losigkeit immer mehr auf standardisierte IQ-Tests, Pisa-Ratings und Befragungsraster berufen, stehen nach diesem Buch mit verkürztem Kopf in der Landschaft.»

Seither ist dieses Thema in Strahms Dienstagsclub tabu. Dem Frieden zuliebe.

Dabei hasst Strahm weder Akademiker noch Intellektuelle. Er, der studierte Nationalökonom, ist ja selber einer, sein Sohn ist Informatiker. Strahm ärgert sich nur über die «geistig schmalbrüstige Mainstream-Erziehungswissenschaft», die lange so tat, als sei die Matura alles und eine Berufslehre fast nichts.

 

Langsam dämmerts
Neu ist seine Haltung keineswegs, er weibelt seit zwanzig Jahren für die berufliche Aus- und Weiterbildung. Neu ist nur, dass er seit der Finanzkrise nicht mehr so allein mit dieser Ansicht steht. In den Schweizer Medien erhält er mittlerweile breiten Raum für seine Thesen, und selbst in der OECD dämmert es langsam einigen, dass italienische Maturaquoten von 75 Prozent womöglich nicht der Weg ins Paradies sind, sondern in eine Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent führen. Wie in Frankreich, Spanien, Griechenland oder Grossbritannien. Offensichtlich produzieren diese Bildungssysteme an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei, die brutale Zeche bezahlt Europas arbeitslose Jugend.

Statistik um Statistik belegt Strahm, wie die Länder mit einem dualen Berufsbildungssystem wirtschaftlich durchwegs besser abschneiden als jene ohne. Das sind, nebst der Schweiz, vor allem Deutschland und Österreich, teils auch die Niederlande und Dänemark. Alle diese Länder haben markant weniger junge Arbeitslose. Kein Zufall also, dass auch Präsident Obama 2013 das deutsche Berufsbildungssystem zum Vorbild für die USA ausrief.

In fast jedem dieser internationalen Vergleiche liegt die Schweiz vorne, der Bund hat 2014 zum offiziellen Jahr der Berufsbildung erklärt, und Strahm selber erklärt die Schweizer Kombination von betrieblicher Berufsausbildung und staatlicher Berufsfachschule mittlerweile gar im chinesischen Fernsehen.

Er könnte also gelassen sein. Ist er aber nicht.

Rudolf Strahm fürchtet, auch die Schweiz könnte in die Akademisierungsfalle geraten. Die Matura ist begehrt wie nie, die Geisteswissenschaften sind überlaufen, während es an Ärzten, Ingenieuren und Pflegepersonal fehlt, welche die Schweiz aus dem Ausland holt. Strahms Dauermahnung: «Der Fachkräftemangel ist hausgemacht!»

Seine eigene Partei sieht er bereits mitten in der Akademisierungsfalle. Ihre Sprache, ihre Themen – «alles zu elitär» für Strahm. «Das ist nicht böser Wille, sie kennen es nur nicht anders.» Schon als Nationalrat klagte er, dass die wenigsten Parlamentarier eine Ahnung von der Berufsbildung hätten, ganz besonders in seiner eigenen Fraktion. Wie denn auch, wenn die meisten an der Uni studiert haben? «Sehr viele Exponenten der SP-Fraktion sind nach dem Studium mehr oder weniger direkt Berufspolitiker geworden. Die eigene Erfahrung in einem Betrieb fehlt.»

Die Welt der Lehrlinge, ob in der Industrie oder bei den Dienstleistern, interessierte Strahms Fraktionskollegen nie wirklich. Denn es ist meistens die Welt der KMU, der Gewerbler, und dieses Milieu riecht für viele Linke schwer nach – SVP. «Mit der Berufslehre produzieren wir SVP-Wähler», sagte eine welsche SP-Nationalrätin einmal zu Strahm. Deutlicher ist das Ressentiment nicht zu formulieren.

Nicht, dass er selber ein vorbehalt­loser Freund aller Gewerbler wäre, die er weiss Gott kennt von all seinen Referaten und Streitereien in seiner Rolle als Preisüberwacher. «Elende Blockierer» seien sie, «jaaaa, und manchmal ganz unmögliche Typen», die von staatlichen Mindestlöhnen und mehr Arbeitnehmerschutz, wie Strahm sie will, meist null und nichts halten.

Aber deshalb hält er nicht gleich jeden Lehrmeister für einen Rassisten, wenn der mal einen «Jugo» im Betrieb zusammenstaucht. Und vor allem «sind die Gewerbler nun mal die Träger dieses Berufsbildungssystems, und sie haben auch schon manch unmöglichen Kerl als Lehrling eingestellt». Gewerbler, sagt Strahm, seien immer wieder «erstaunlich gute Hosensackpsychologen, die 15-jährige Schnösel einstellen, welche nur Probleme mit den Eltern, der Freundin und dem Töffli haben. Doch am Ende der Lehre sind zuverlässige junge Fachmänner mit guten Perspektiven aus ihnen geworden.»

 

Die kulturelle Kluft
Die Akademisierungsfalle ist das eine. Für Strahm steckt aber noch weit mehr dahinter, nämlich eine «kulturelle Kluft». Damit meint er einen tiefen – und wachsenden – Graben zwischen akademischer Bildungselite und breiter Bevölkerung. Hier liegt womöglich der grösste Zunder in seinem Buch begraben. Er schreibt: «Der Bildungsdünkel der universitären Elite (in der auch ich mich beruflich und als Dozent bewege) ist kulturell ein Kampf um Deutungshoheit und Herrschaft. Universitäre Forschung, akademische Titel, wechselseitige Zitationen, Schwurbelstile und Geringschätzung gegenüber allem, was nicht zur Bildungselite gehört, sind letztlich Herrschaftsinstrumente.»

Für eine Akademiker- und vor allem eine Geisteswissenschaftlerpartei, wie es die SP mehr als jede andere Partei ist, wirken solche Sätze wie eine Stinkbombe von rechts, auch wenn Begriffe wie «Deutungshoheit» und «Herrschaftsinstrument» aus dem Denkmuster von links stammen.

Jüngere und akademisch gebildete Linke, hat Strahm die Erfahrung gemacht, «verstehen gar nicht, wovon ich hier rede». Und das ist genau das Problem: «Die Bildungselite, die es gut meint, realisiert nicht, dass sie mit ihrer hochgestochenen Sprache in der Bevölkerung nicht ankommt.» Diese «Entfremdung» erinnert ihn an die Berner Aristokratie des 19. Jahrhunderts. «Die glaubten auch, sie wollten nur das Beste für das Volk. Und merkten nicht, dass sie sich immer mehr von ihm entfernten.»

Der Abgrund offenbart sich für Strahm in Bildungsfragen wie dem Lehrplan 21 oder dem Fremdsprachenstreit, ebenso in den Debatten über Europa und Ausländer, ja «überall dort, wo es um Wert- und Weltanschauungsfragen geht». Die Kluft spaltet das Land, seine Partei, ja Strahms eigenen Freundeskreis.

Aber der Veteran mag jetzt keine grossen Rücksichten mehr nehmen. Wenn der Club Helvétique – darunter auch mehrere seiner linken Freunde – jene 51 Prozent der Stimmenden tel quel als «Scheuklappenschweizer» abserviert, die Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gesagt haben, dann packt Strahm die Wut über dieses «elitäre Manifest»: «Das sind nicht alles Abschottungsbürger!»

Er fürchtet nur, dass er auch diesmal nicht verstanden wird, sondern gleich mitschubladisiert als «Scheuklappenschweizer». Als verkappter Blocherianer.

Das ist die zweite grosse Falle, vor der er seit langem warnt: «die Blocherfalle». In einer Kolumne schrieb er, der Blochers Abwahl für richtig hielt: «Zu mindestens 50 Prozent haben sich die Linken und die Bürgerlich-Liberalen den blocherschen Machtzuwachs selber zuzuschreiben! Weil sie vorhandene Probleme des Landes immer so lange verdrängten, bis es nicht mehr anders ging und Blocher das Terrain schon besetzt hatte.»

Sehr ähnlich sieht das Helmut Hubacher, der selber eben ein Buch über den Umgang mit Blocher ** geschrieben hat.

Nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative entdeckte Strahm in der Vox-Analyse den Beleg dafür, was er bereits von vielen Berufsberatern gehört hatte: dass die 50- bis 58-jährigen Schweizer mit mittleren Qualifikationen zunehmend schlechte Jobchancen gegenüber Jungakademikern aus dem Ausland haben. Die Folge davon: Überdurchschnittlich viele lehnen den freien Personenverkehr ab.

Wieder eine Kolumne, auf die er mehr als hundert Mails erhielt, die allermeisten zustimmend, auch ein paar ablehnende von Politologen, und er fragt sich, warum denn nicht seine Partei solche Fragen zum Thema macht. Die Antwort: weil sie in der Blocherfalle steckt.

Wie der Volkspädagoge Rudolf Strahm derart zwischen alle parteipolitischen Stühle geraten konnte – seiner SP zu rechts, der SVP zu links, der FDP zu etatistisch und der CVP zu protestantisch –, ist nur durch seine Herkunft zu erklären. Eben, der «Täuferbub aus dem Emmental». Sein Vater war Mitglied einer Freikirche, Primarlehrer und Chorleiter, die Mutter stammte aus einer Kleinbauernfamilie. Ruedi, ältestes von fünf Kindern, im Kriegsjahr 1943 in diese gotthelfsche Arbeit-Fleiss-und-Glaube-Welt hineingeboren, machte 1959 eine Chemielaborantenlehre im fernen Basel. Danach studierte er Chemie am Technikum Burgdorf und ging 1966 wieder zu Geigy nach Basel. Dort erklärte ihm der Personalchef, der spätere FDP-Nationalrat Paul Wyss, wer bei ihnen etwas werden wolle, müsse zusätzlich Betriebswirtschaft studieren und Offizier werden.

 

Der Student Strahm
Also wurde der junge Strahm Offizier und begann mit 25 Wirtschaft an der Uni Bern zu studieren. Volkswirtschaft. Doch an seinem ersten Studientag wurde gleich gestreikt, es war Mai 1968, die Studenten gingen für Studienreformen und Ho Chi Minh auf die Strasse.Und mittendrin der Rüedu, Täufersohn, Chemiker und Offizier – jene Mischung, aus der einer der sonderbarsten Schweizer Achtundsechziger entstehen sollte: ein linker Patriot, ein säkularisierter Protestant mit starkem Gerechtigkeitsempfinden.

Strahm habe sich zwar von seinem christlich-kleinbürgerlich-konservativen Milieu emanzipiert, schreibt sein Freund Peter Hablützel (der frühere Chef des Eidgenössischen Personalamtes) in einem Essay ***, aber ohne eine nachhaltige Aversion dagegen zu entwickeln. Nicht einmal gegen die Kirche. Er ist zwar längst «areligiös», aber ausgetreten ist er nie. Als einer der ersten Schweizer Linken hat er sich mit kirchlichen Hilfswerken wie Fastenopfer und Brot für Brüder in der Entwicklungshilfe engagiert und später die ersten Drittweltläden gegründet («Jute statt Plastik»).

Strahm sieht durchaus eine Verbindung zwischen den Emmentaler Täufern und den Achtundsechzigern: die Aufmüpfigkeit gegen die Obrigkeit, ob gegen die hohen Herren von Bern oder gegen die Amerikaner. Oder gegen die Übermacht der grossen Wirtschaftskonzerne.

Von Parolen wie «Überwindung des Kapitalismus» hält er zwar nichts und von einem bedingungslosen Grundeinkommen auch nicht viel – er ist einfach zu bodennah für solche «Träumereien». Wohl aber trat er früh gegen die wirtschaftliche Übermacht der Konzerne an. Gegen Nestlé (unterstützt vom jungen Zürcher Anwalt Moritz Leuenberger) oder gegen die Banken («noch vor Jean Ziegler»). 1970 schrieb er seinen ersten Artikel gegen Kapitalflucht, 1976 arbeitete er an Zieglers erstem fulminantem Buch mit, «Une Suisse au-dessous de tout soupçon», und 1978 holte ihn Helmut Hubacher als Zentralsekretär in die SP, wo er als Erstes Unterschriften für die Bankeninitiative zu sammeln begann.

Hubacher ist der einzige Ex-Präsident, mit dem er sich meistens gut verstand (sie waren soeben gemeinsam an den Thunerseespielen), und Jean Ziegler ist noch heute so von ihm angetan, dass er im gleichen Gewerkschaftsblatt, das Strahm eben noch journalistisch massakriert hatte, vorschlug: «Enteignet die Grossbanken! Rudolf Strahm als UBS-Präsident!» Der Unterschied zwischen Strahm und Ziegler ist nur, dass Strahm von CS-Präsident Urs Rohner innerhalb eines Tages zum Gespräch nach Zürich eingeladen wird, nachdem er öffentlich dessen Rücktritt verlangt hat.

Rudolf Strahm hat drei grosse Vorteile nach vierzig Jahren im politischen Geschäft: Er kennt seine Dossiers, er beherrscht die Mechanik der Macht, und er kennt das Personal. Doch Letzteres wechselt rasch, vor allem im Parlament, und dort ist niemand scharf auf ruhelose und rechthaberische Veteranen, die ihnen vor dem Licht stehen. Im Gegenteil: Liegt Strahm einem Nationalrat wegen der Berufsbildung oder sonst was in den Ohren, dann kann sein Furor rasch kontraproduktiv werden («Nid scho wieder dää . . .»).

 

Mit der Macht per Du
Sein Trumpf bleibt seine breite Resonanz in der Bevölkerung, und der öffnet ihm weiterhin fast jede Tür für Hintergrundgespräche mit bestinformierten Beamten und Chefbeamten. Strahm hat nicht nur eine klare Meinung, er recherchiert auch, bevor er öffentlich meint.

Mit allen amtierenden Bundesräten ist er per Du, ausser mit Frau Widmer-Schlumpf. Den Hannes (Schneider-Ammann) kennt er seit langem aus dem Nationalrat, doch das hindert ihn nicht, den Wirtschafts- und Bildungsminister am schärfsten von allen zu kritisieren.

Alain Berset, der altersmässig Strahms Sohn sein könnte, kennt er kaum, umso besser hingegen Simonetta (Sommaruga). Mittlerweile hat er es aufgegeben, seine Rolle als ihr Einflüsterer jedes Mal dementieren zu wollen. Es stimmt ja. Wobei er nicht einflüstert, was nach Fernsteuerung riecht, aber «alle paar Monate» intensiv mit der Justizministerin die grossen Themen «z Bode redt», manchmal auch einen ganzen Abend bei ihr zu Hause. «Als Veteran bin ich frei», sagt Strahm. Er könne ihr ungefiltert sagen, was er denke und sie vielleicht sonst nicht höre, auch weil er kein Pöstchen von ihr begehre.

 

Unglaublicher Hass
Im Nationalrat sassen die beiden hintereinander, und Strahm bekam aus nächster Nähe mit, wie Sommaruga vom linken Fraktionsflügel um Andrea Hämmerle, Pierre-Yves Maillard oder Franco Cavalli geschnitten wurde, nachdem sie mit drei Co-Autoren im Jahr 2001 das nachmals berüchtigte Gurten-Manifest publiziert hatte. «Die SP akzeptiert eine Begrenzung der Zuwanderung», stand zum Beispiel drin, und allein dieser Satz reichte, um das «Gurken-Manifest» zu schreddern.

«Da war ein unglaublicher Hass», erinnert sich Strahm, der oft als Mitautor genannt wird. Das ist er nicht, doch er distanzierte sich auch nie davon, obwohl er fand, so gehe es tatsächlich nicht. «Im ganzen Manifest stand kein einziger Satz zur sozialen Frage und zum Thema Gerechtigkeit. Das ist inakzeptabel für eine Partei wie die SP.» 2005 schrieben Strahm und Sommaruga gemeinsam ein Buch, eine Art erweitertes Gurten-Manifest, einen «praktischen Reformplan für eine moderne Schweiz», von dem er unterdessen schon einiges umgesetzt sieht, insbesondere bei der Integrationspolitik, die der Justiz­ministerin obliegt.

Integration, sagt Strahm, hat entscheidend mit Sprache und Ausbildung zu tun, und damit ist er wieder bei seinem Buch, das die Berufsbildung als zentralen Integrationsfaktor schildert – nicht nur für bildungsferne Einwanderer, sondern für alle Leute mit hohem Armutsrisiko. «Prävention und Bekämpfung von Armut heisst berufliche Ausbildung und Arbeitsmarktintegration», sagt Strahm. Also nicht Sozialpolitik. Er weiss natürlich, dass er damit «die Sozialarbeitsszene provoziert», zumal er von den Sozialarbeitern («Völlig falsch ausgebildet!») verlangt, dass sie sich mehr an den Berufsberatern orientieren, deren oberstes Ziel die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist.

Zu jenem Thema hingegen, das ihn am meisten umtreibt, schweigt der Volkspädagoge bis auf Weiteres: Europa. Der 9. Februar sei noch lange nicht verdaut, aber auch er ist ratlos nach der Niederlage, die er dem Bundesrat ausdrücklich an den Hals gewünscht hat (zum Ärger von Simonetta).

Ja, er lag falsch, als er der EU 1992 fehlendes ökologisches Bewusstsein vorwarf. Sie ist heute weit grüner, als er damals dachte, gesteht er selber ein. Doch seine Grundskepsis ist geblieben. Das grosse Friedensprojekt, das die EU einmal war, vermag Strahm immer weniger zu erkennen, dafür immer deutlicher ihr «neoliberales Deregulierungsprogramm».

Man dürfe nicht wegen jedes Hüstelns eines EU-Funktionärs hyperventilieren, müsse sich alle Optionen offenhalten; sicher ist für Strahm nur eines: In diesem Jahr läuft nichts mehr. In Brüssel warten alle, bis «der Filou» Barroso, den Strahm als Jungmarxisten in Genf kennen lernte, weg ist und die neuen Kommissare installiert sind.

Voraussichtlich 2016 dürfte dann der nächste grosse Europa-Entscheid an der Urne fallen: Bilaterale ja oder nein? Rudolf Strahm liebäugelt bereits mit seinem dreizehnten Buch.

 

* Rudolf Strahm: «Die Akademisierungsfalle. Warum nicht alle an

die Uni müssen», Hep-Verlag, 2014

 

** Helmut Hubacher: «Hubachers Blocher», Zytglogge-Verlag, 2014

 

*** Peter Hablützels Text ist erschienen in: Rudolf Strahm: «Kritik aus

Liebe zur Schweiz», ­Zytglogge-Verlag, 2012

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