Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 19. August 2014
Die Ankündigung der neusten SVP-Volksinitiative ging vergleichsweise lautlos über die Bühne. Viele Kommentatoren wussten auf den ersten Blick nicht recht, wie sie einzuordnen wäre. Nur vereinzelte Rechtsgelehrte wagten sich mit Kommentaren aufs Eis.
Das Ziel der SVP-Initiative: Der bisher heilige Verfassungsgrundsatz «Einmal angenommenes Völkerrecht bricht Landesrecht» soll ersetzt werden durch das Prinzip «Landesrecht steht über dem Völkerrecht».
Das Thema ist geeignet für einen Streit unter Rechtsprofessoren. Für das Volk wird die Initiative, wenn es sich nicht bloss um eine taktische Ankündigung handelt, ein schwer zu beurteilender Brocken. Darum wage ich es, mich jetzt bereits in die Meinungsbildung einzuschalten. Die Problematik geht nämlich weit über die strafrechtliche Streitfrage hinaus, ob man einen kriminellen Ausländer des Landes verweisen darf oder nicht.
Wenn man angesichts der Globalisierung von einem Fortschritt der Menschheit sprechen kann, dann in Bezug auf das internationale Recht, das Völkerrecht. International vereinbarte Rechtsnormen sind der zivilisatorische Fortschritt der Moderne, allen anderen voran die Europäische Menschenrechtskonvention und die Deklaration der Menschenrechte der UNO. Besonders für Kleinstaaten ohne Kanonenboot- Diplomatie ist das Völkerrecht der beste Garant ihrer Interessen. Gerade sie haben darum das grösste Interesse, dass es weiter ausgebaut wird!
Grossmächte brauchen das Völkerrecht nicht – oder missbrauchen es für ihre Interessen. Sie haben andere wirksame Durchsetzungsmöglichkeiten gegen andere Länder: mit Sanktionsdrohungen, mit Wirtschaftsboykotten und notfalls mit Kanonenbooten. Die USA vermochten nur schon mit der Androhung, Banken den Prozess zu machen, das vermeintlich in Granit gemeisselte schweizerische Bankgeheimnis zu knacken. Hans-Rudolf Merz, von 2003 bis 2010 Vorsteher des Eidgenössischen Finanzdepartements, hatte naiverweise noch geglaubt, die ganze Welt werde sich die Zähne daran ausbeissen. Weniger mächtige Länder sind auf neue völkerrechtliche Abkommen und internationale Schiedsurteile angewiesen, um ihre Interessen auf zivilisierte Art zu verfolgen. Als die Firma Stadler Rail mit ihren Offerten für Triebwagenzüge in Ungarn an Korruptionsstrukturen auflief, konnte sie dank des Völkerrechts – der internationalen Submissionsregeln der Welthandelsorganisation (WTO) und der EU – Klage einreichen, Transparenz erzwingen und sich durchsetzen.
Wenn die Ems-Chemie oder die Swatch illegale Nachahmer in Fernost aufspüren, können sie die Schwarzmarktproduzenten mithilfe des Völkerrechts belangen – nämlich mithilfe des multilateralen Vertrags über Rechte am geistigen Eigentum (Trips-Abkommen).
Sollten Hardliner in der EU auf die Idee kommen, im Falle einer Eskalation mit der Schweiz die bilateralen Abkommen ausser Kraft zu setzen, um den Druck zu erhöhen, könnten sie trotzdem keine protektionistischen Massnahmen gegen die Schweiz ergreifen. Die multilateralen WTO-Abkommen schützen seit 1995 vor solchen Handelssanktionen. 95 Prozent unseres Wirtschaftsverkehrs mit der EU sind durch solche multilaterale Abkommen abgesichert. Es ist bizarr und kurzsichtig, dass die SVP das Völkerrecht mit seinen Schutzmechanismen aushebeln will!
Argentinien erlebt derzeit dramatisch, wie hilflos ein Land dasteht, wenn kein Völkerrecht klare Rechtsnormen festlegt: Ein Grüppchen von Spekulanten aus der amerikanischen Hedgefonds-Szene erpresst das Land mit aufgekauften alten Schuldenforderungen aus den 80er- und 90er-Jahren. Die Spekulanten versuchen zu erreichen, dass argentinische Vermögenswerte im Ausland beschlagnahmt werden. Das ist nur möglich, weil es kein völkerrechtlich verankertes Insolvenzrecht gibt, das Schuldnerländer vor Wildwest-Methoden schützt.
Die SVP-Initiative will im Namen der nationalen Souveränität im Grunde das Recht einführen, dass die Schweiz vereinbarte internationale Rechtsnormen aushebeln oder brechen kann. Vereinzelte Urteile, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGH) in Migrationsfragen gefällt hat, scheinen dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden tatsächlich zu widersprechen. Aber deswegen das Völkerrecht pauschal auf Verfassungsstufe auszuhebeln, wie es die SVP will, ist eine kurzsichtige und gefährliche Überreaktion zum Nachteil der Schweiz.
Als vertrauensbildende Massnahme will der Bundesrat dem Parlament jetzt umgehend jenes EMRK-Zusatzprotokoll zur Genehmigung vorlegen, das den Einzelstaaten wieder mehr Ermessensspielraum gegenüber dem Menschenrechtsgerichtshof ermöglicht. Dieses Protokoll ist von den Ministern der EMRK-Länder ausgearbeitet worden, weil dessen immer weiter gehende Urteile längst über die ursprünglich vereinbarten Menschenrechtsgrundsätze hinaus gehen und heute nationale Kulturwerte verletzen.
Das Völkerrecht wird dann tatsächlich problematisch, wenn die zuständigen Gerichte die ursprünglich vereinbarten Rechtsnormen selber weiterentwickeln und ohne demokratische Absegnung erweitern. Der Europäische Gerichtshof EuGH, also die Gerichtsinstanz der EU (nicht zu verwechseln mit dem Gerichtshof für Menschenrechte), nimmt sich das Recht heraus, die Rechtsnormen für die EU-Länder selber weiterzuentwickeln, ohne dass diese von den Regierungen und Parlamenten beschlossen worden sind.
Der linksliberale Flensburger Professor Hauke Brunkhorst zeigt in seinem viel beachteten Buch «Das doppelte Gesicht Europas», wie der EuGH durch autonome Erweiterungen von EU-Regeln letztlich die Rechte der prozesswilligen, finanzkräftigen Konzerne ausgeweitet und die Sozialrechte der EU-Bürger ausgehöhlt hat. Die Demokratie wird so durch die Richter ausgehebelt.
Die EU will die sogenannt «dynamische Rechtsentwicklung» des EuGH und eine automatische Rechtsanpassung. Die Befürworter und Verteidiger des Völkerrechts, zu denen ich mich immer zählte, sind herausgefordert. Sie müssen dieser Art der schleichenden Aushebelung der Demokratie durch Richter eine Absage erteilen. Völkerrechtsnormen muss man verteidigen und multilateral mittels demokratischer Beschlüsse weiterentwickeln, nicht durch Richter «dynamisieren».
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