Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 2. September 2014
Das Drama, das sich derzeit in Frankreich abspielt, hat historische Ausmasse. Das ist letzte Woche deutlich geworden, als Präsident François Hollande seinen bisherigen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg abrupt durch Emmanuel Macron ersetzt hatte: Der 36-jährige Doktor der Philosophie soll den wirtschaftlichen Niedergang Frankreichs aufhalten. Auch ihm wird es nicht gelingen.
Die Jugendarbeitslosigkeit von 23 Prozent zeugt vom wirtschaftlichen Abstieg der ehemals stolzen Industrienation. Und über 10 Prozent bei den über 25-Jährigen. Bloss noch 11 Prozent der französischen Erwerbstätigen arbeiten heute in Fabriken – in der Schweiz und in Deutschland ist der Anteil doppelt so hoch. Die Autokonzerne, einst Flaggschiffe der französischen Industriekultur, sind Sanierungsfälle. Da kann es nicht verwundern, dass die französische Industrie nur 12 Prozent zur nationalen Wirtschaftsleistung beiträgt.
In Frankreich fehlt es nicht an Kapital, nicht an Nachfrage und auch nicht an Ingenieuren. Es gibt dort mehr akademisch ausgebildete Ingenieure und Naturwissenschafter als in der Schweiz und in Deutschland. Aber es gibt zu wenig qualifizierte Berufsfachleute, die Innovationen mit praktischer Intelligenz rasch und präzis umsetzen können. Frankreich hat keine duale Berufslehre, wie man sie in den deutschsprachigen Ländern mit Erfolg pflegt. Frankreich steckt in der Akademisierungsfalle.
53 Prozent der jungen Franzosen machen ein Baccalauréat, die französische Version des Maturitätsabschlusses. Wer nicht studiert, gilt nichts und macht bestenfalls eine Art betriebliche Anlehre ohne formale Berufsqualifikation. Nun will die Bildungselite die arbeitslosen Jugendlichen in den Banlieues (nicht selten 30 bis 40 Prozent) mit einer Art praktischer Anlehre von der Strasse holen. Ein Angebot «pour les plus défavorisés », die Schwächsten, das illustriert, mit welchem sozialen Stigma die Berufsbildung behaftet ist.
Es hat Folgen, die weit über die Grande Nation hinausreichen. Denn in Bildungsfragen ist die französische Elite tonangebend in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in der Unesco und in der EU. Sie war treibende Kraft des Bologna-Systems.
Frankreich steht mit der Entindustrialisierung nicht allein. Der industrielle Niedergang Italiens und Südeuropas insgesamt ist noch dramatischer. Es gibt auch dort nicht zu wenig Ingenieure und Akademiker, es fehlen Berufsleute, die für Qualitätsarbeit stehen. Die Verschuldung, die chronischen Handelsbilanzdefizite, die tiefe Arbeitsproduktivität dieser Länder – das alles sind Langzeitfolgen der Akademisierungsfalle.
Noch vor zwei, drei Jahrzehnten waren Italien, Spanien, Portugal die europäischen Hauptproduzenten für Kleider, Schuhe, Haushaltsgeräte. China und andere asiatische Exportländer haben Südeuropa von den Weltmärkten verdrängt. Mindestens 26 Millionen traditionelle Industriearbeitsplätze sind in Westeuropa verloren gegangen. Die Mittelmeerländer konnten im Innovationswettlauf zur Spezialitätenproduktion mit ihren höheren Preisen nicht mithalten. Eigentlich müssten sie ihre Währungen jetzt abwerten können, um international konkurrenzfähiger zu werden. Aber das ist aufgrund der Einbindung in die Eurozone nicht möglich
In den USA ist man inzwischen am Umdenken. Die vorherrschende Managementdoktrin hatte lange Zeit die Verlagerung der industriellen Produktion ins billigere Asien propagiert. Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft wurde in den USA beschworen. Nach Ausdünnung der Industrie kommen nun die Ökonomen Gary P. Pisano und Willy C. Shih von der Harvard Business School in einer viel beachteten Studie zum Schluss: Weil in den USA die ausgebildeten, praxisnahen Berufsfachleute fehlen, fehlt in der amerikanischen Industrie die Anwendungskompetenz.
Mit anderen Worten: Es mangelt an der Fähigkeit, selbst rasch Prototypen, Pilotversuche und Innovationen zu realisieren. Damit hat die amerikanische Exportwirtschaft ihre internationale Vorreiterrolle eingebüsst, mit Ausnahme vielleicht der staatlich gestützten und geschützten Rüstungsund Grossrechnerindustrie. Pisano und Shih fordern die Wiedereinführung einer Berufsfachleute-Ausbildung, die allen Firmen nützt. US-Präsident Barack Obama regt an, das «German Model», das duale Berufsbildungssystem Deutschlands zu kopieren.
Glücklicherweise haben wir in der deutschen Schweiz eine KMU-Wirtschaft, die das duale System politisch stützt und verteidigt. Die ländliche Wirtschaftselite hat ihre berufliche Karriere meist mit einer Berufslehre begonnen, sie ist dank der höheren Berufsbildung aufgestiegen und weiss um den Wert der praktischen Intelligenz und der Qualitätsarbeit. Sonst wäre die Berufsbildung in den 90er-Jahren wohl auch bei uns in vollschulische Ausbildungen integriert worden.
In der Romandie, wo die Berufslehre nie so stark verankert war wie in der Deutschschweiz, ist die Lehre weniger verbreitet. Während Betriebe in der Ostschweiz im Durchschnitt 8 Lehrlinge pro 100 Beschäftigte ausbilden, sind es in Genf nur 2 und in Neuenburg und der Waadt rund 4 pro 100. Der schweizerische Durchschnitt liegt bei 6. Dafür kennt die Romandie eine markant höhere Arbeitslosigkeit.
Die Berufsbildung geniesst in der akademischen Elite der Westschweiz keine grosse Wertschätzung, oft ist sie mit einem sozialen Stigma behaftet. Mein soeben erschienenes Buch «Die Akademisierungsfalle – Warum nicht alle an die Uni müssen» stiess in der Deutschschweiz auf ein breites Echo, in der Westschweiz eher auf Unverständnis. Ich bin darüber weder überrascht noch enttäuscht: Es zeigt vielmehr das unterschiedliche Bildungsverständnis in den Landesteilen, das sich auch in anderen Fragen manifestiert.
Bildung soll nicht einfach der Wirtschaft zudienen. Aber man darf von ihr erwarten, dass sie die Jungen befähigt, im harten Arbeitsmarkt zu bestehen. Die Erfahrung der lateinischen Länder mit fehlender Berufslehre und mangelnder Arbeitsmarktfähigkeit sollte allen eine Lehre sein.
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