Der Kuhhandel gehört zur Kompromissdemokratie (STAF-Vorlage)

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 07.05.2019

Im November 1993 erlebte die Schweiz eine Volksabstimmung mit einem historischen Durchbruch. Mit Zweidrittelmehrheit stimmte das Schweizervolk dem Systemwechsel von der alten Warenumsatzsteuer Wust zur Mehrwertsteuer (MwSt.) zu. Die un­geliebte Mehrwertsteuer war zuvor schon dreimal vom Volk abgelehnt worden. Die Schweiz hatte sich mit der veralteten, im Weltkrieg provisorisch eingeführten Warenbesteuerung immer stärker vom europäischen Steuersystem entfernt.

Dieser Systemwechsel entlastete zwar die Exportindustrie um rund 2,5 Milliarden Franken (Wegfall der Taxe occulte), belastete allerdings die Haushalte zusätzlich mit rund 2 Steuermilliarden. Nach drei Fehlversuchen glaubten der Bundesrat und der Finanzminister nicht mehr an den Erfolg eines vierten Anlaufs. Doch innerhalb der Wirtschaftskommission des Nationalrats nahm eine achtköpfige Gruppe von Finanzpolitikern mit je zwei Vertretern aus CVP, FDP, SVP und SP das Heft in die Hand.

Das Resultat ihres Kompromissdeals war ein ausgewogeneres Reformpaket: Man befreite Krankenkassenprämien, Mieten und Bildung von der Mehrwertsteuer und reduzierte sie bei Lebensmitteln auf ein Drittel. Aber nicht nur das: Man baute gleichzeitig drei soziale Kompensationen in den Kompromiss: ein zusätzliches, zweckgebundenes MwSt.-Prozent für die AHV (das seit 1999 jährlich 2 Milliarden Franken in die AHV-Kasse spült). Zusätzlich vereinbarte man jährlich 500 Millionen Franken zur Verbilligung der Krankenkassenprämien (heute sind es 2 Milliarden) und zudem ein einmaliges konjunkturelles Beschäftigungsprogramm für 300 Millionen Franken. Nur dank dieser eingebauten sozialen Kompensation gelang 1993 die historische Steuerreform. Niemand sprach je von Kuhhandel. Die Notwendigkeit einer sozialen Verknüpfung war allen bewusst.

Schwierige Vorlagen sind nur noch mit einer sozialen Kompensation für die Betroffenen zu realisieren.

Ich erzähle diese Episode als Beteiligter und Antragsteller des MwSt.-Prozents für die AHV, weil sie grosse Parallelen zur aktuellen AHV-Steuer-Vorlage Staf aufzeigt, die nunmehr als Kuhhandel und Verletzung der Steuerfreiheit schlechtgeredet wird.

Bei der Staf-Vorlage eine «sachfremde» Verknüpfung von Steuerreform und AHV-Finanzierung zu behaupten, ist Unsinn. Denn die Unternehmen, die steuerlich profitieren, zahlen damit auch mehr in die AHV. Wer solche Verknüpfungen ablehnt, negiert die Notwendigkeit kompromissfähiger Abstimmungsvorlagen.

Schwierige Abstimmungsvorlagen, etwa Globalisierungsprojekte oder Entlastungen zugunsten der Wirtschaft, sind heute nur noch mit einer sozialen Kompensation – eben einem Kuhhandel – zugunsten der potenziell Betroffenen zu realisieren. Auch nach dem EWR-Nein war ein Ja zu den Bilateralen I nur mit den flankierenden Lohnschutzmassnahmen Flam möglich geworden.

Die Verfassungsregel der «Einheit der Materie» betrifft nämlich nur Volksinitiativen, nicht aber die Gesetzesänderungen, wie der Staats- und Verfassungsrechtler Andreas Kley darlegte. Im zutreffenden Bundesverfassungsartikel 34 ist von der Einheit der Materie nicht die Rede. Wenn sachpolitische Verknüpfungen nicht mehr möglich sind, wird der parlamentarische Kompromiss verhindert.

Wichtige Verbesserungen

Es ist auch polemisch, die Staf-Vorlage mit dem Grünen-Kalauer vom «alten Wein in neuen Schläuchen» zu verhöhnen. Wer das sagt, tut es unbelastet von Finanzfachkenntnis. Denn die Staf-Vorlage realisiert immerhin folgende gewichtige Verbesserungen gegenüber der vor zwei Jahren abgelehnten Unternehmenssteuerreform 3:

Erstens wird die Patentbox, also die Steuerreduktion für Lizenzerträge, massiv eingeschränkt. Zweitens werden die Steuerabzüge für Forschung und Entwicklung eingegrenzt. Drittens werden die Kapitalzinsabzüge für die konzerninterne Eigenfinanzierung so stark beschnitten, dass nur noch der Kanton Zürich davon Gebrauch machen kann. Viertens wird für die Senkung der Dividendenbesteuerung von Grossaktionären eine Untergrenze eingeführt. Fünftens müssen die Kantone nun auch ihre Städte und Gemeinden am höheren Anteil aus der direkten Bundessteuer beteiligen. Sechstens werden die Fehlleistungen der Unternehmenssteuerreform 2 des Hans-Rudolf Merz mit den steuerbefreiten Gewinnausschüttungen (Kapitaleinlageprinzip), soweit es geht, rückgängig gemacht. Und siebtens wird der interkantonale Finanzausgleich durch eine modifizierte Anrechnung der Firmensteuererträge leicht verstärkt. (Persönlich hätte auch ich eine fixe Steueruntergrenze für die Kantone bevorzugt, um den interkantonalen Steuerwettbewerb wirksamer zu unterbinden.)

Anforderungen der EU

Die Preisgabe der Steuerprivilegien für die rund 24’000 ausländischen Holdings und Sitzgesellschaften in der Schweiz ist unausweichlich, weil die OECD und die EU ultimativ von der Schweiz die Beendigung dieser «Steuerpiraterie» einfordern. Dass die Grünliberalen und Teile der Grünen trotz ihrer kompromisslosen EU-Euphorie ausgerechnet diese international solidarische, europakompatible Steuerreform bekämpfen, beweist ihre unbekümmerte Widersprüchlichkeit.

Auch die mit der Staf-Vorlage vorgesehene AHV-Finanzierung ist gerechtfertigt: Mit der AHV-Zusatzfinanzierung von 2 Milliarden Franken pro Jahr verschafft man sich immerhin drei bis vier Jahre Spielraum, um eine längerfristige AHV-Sanierung anzugehen.

Beide der kommenden eidgenössischen Abstimmungsvorlagen – die Staf und die Waffengesetzrevision – haben ihren Ursprung in internationalen Anforderungen der EU. Ihre Ablehnung würde bloss eine neue mühsame Kompromisssuche erfordern. Wir sollten doch die Auseinandersetzungen mit der EU auf jene Themen beschränken, bei denen es dann wirklich entscheidend ist.