Ohne Zeitdruck mit der EU verhandeln

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 11.04.2017

Der Bundesrat sollte seine Europa-Politik mal vom Ende her denken. Das wäre wirklich kluge Politik.

Was haben wir in den letzten Wochen nicht tröpfchenweise alles an Absichten und Wünschen, an News und Gegen-News zur schweizerischen Europapolitik erfahren! Mal wurde vom Büro des abtretenden Staatssekretärs Jacques de Watteville die Botschaft gestreut, das Rahmen­abkommen habe einen Durchbruch erlebt. Darauf wurde aus andern Departementen in Bundesbern diskret gegeninformiert, dies sei «Wunschdenken» oder eine «Zeitungsente».

Der Ursprung dieser widersprüchlichen, amtlichen Verunsicherungskommunikation liegt bei den weit auseinanderliegenden Einschätzungen und Absichten der Bundesratsmitglieder. Die tiefgreifenden Differenzen widerspiegeln die europapolitischen Spaltungen in Wirtschafts­verbänden und Parteien.

Nach dem jüngsten Brüsselbesuch von ­Bundespräsidentin Doris Leuthard wurde die Deblockierung aller Verhandlungsdossiers verkündet und bis Ende Jahr das institutionelle Rahmenabkommen in Aussicht gestellt, über das man schon lange mit der EU verhandelt. Man ist wieder am gleichen Ort wie vor drei Jahren. Was kann man angesichts dieser widersprüchlichen Absichtenrhetorik noch glauben?

Test für die Glaubwürdigkeit

Versuchen wir doch, mit einer Auslegeordnung ein wenig Übersicht zu erlangen:

Da ist zunächst die dringliche Umsetzung der Initiative gegen die Masseneinwanderung. Im letzten Dezember hatte das Parlament das Gesetz zum sanften Inländervorrang beschlossen. Griffige Vollzugsbestimmungen für die Arbeit der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und die nötige Ausbildung der RAV-Personalberater werden matchentscheidend dabei sein, ob die Parlamentsbeschlüsse für die inländischen Arbeitslosen wirksam werden oder toter Buchstabe bleiben. Die Umsetzung ist ein Testfall für die Glaubwürdigkeit des Bundesrats und der involvierten Spitzenbeamten.

Seit ein paar Tagen weiss man definitiv, dass das eigenwillige Referendum des profilierungs­bedürftigen Politologieprofessors Nenad Stojanovic gegen dieses Inländervorrang-Gesetz gescheitert ist. Damit wird auch die eingereichte Volks­initiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa), die den Zuwanderungsartikel ganz aus der Verfassung streichen will, selber zur politischen Sackgasse. Sie war ein Schnellschuss und ist jetzt nur noch kontraproduktiv.

Die wahre Knacknuss

Da wird nun die alt-neue Knacknuss eines institutionellen Rahmenabkommens mit der EU wieder aktuell. Die EU will mit einem neuen Staatsvertrag sichern, dass sich die Schweiz den laufenden Änderungen und Fortentwicklungen des EU-Binnenmarktrechts automatisch anpasst, um damit die Unterschiede in der Praxis und Auslegung zu beseitigen (EU: «Kein Parallelrecht mehr»). Die laufende Angleichung von Normen und Regeln ist an sich erwünscht und liegt im Interesse des Handels und der Konsumenten. Doch die Knacknuss besteht darin, dass die EU das Binnenmarktrecht und ebenso die Anwendung der Personenfreizügigkeit allein durch den EU-Gerichtshof (EUGH) entscheiden lassen will. Und eine noch grössere Knacknuss besteht in den «massvollen Ausgleichsmassnahmen», die von der EU verhängt werden können.

«Ausgleichsmassnahmen» sind eine diploma­tische Begriffsglättung für die angedrohten Sanktionen gegen die Schweizer Wirtschaft, wenn sich die Schweiz einem EUGH-Entscheid nicht beugen sollte. Sanktionsandrohungen und Nadelstiche haben wir bereits beim Kroatienabkommen erlebt. Nun sollen sie laut EU mit dem institutionellen Rahmenabkommen legalisiert werden. Die Wirtschaftsverbände lehnen eine solche Unterwerfung unter das EU-Recht kategorisch ab.

Juncker kennt die innere Spaltung der Schweiz

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat letzte Woche in Aussicht gestellt, dieses institutionelle Rahmenabkommen solle bis Ende 2017 fertig ausgehandelt werden. Eine solche Fristansetzung ist schlicht unrealistisch, sie setzt die Schweizer Politik erneut unter europapolitischen Zugzwang und führt zu interner Polarisierung. Juncker ist clever und kennt die innere Spaltung der Schweiz. Er setzt auf die Karte der EU-Turbos und jener Kreise hierzulande, die aus partikulären Interessen neue Abkommen wünschen.

Der Chef von Swissgrid, die die Hochspannungsleitungen betreibt, fordert lauthals für sich ein sofortiges Stromabkommen, obschon die Elektrizitätsbranche uneinig ist. Ein Zahnimplantate-Exporteur ruft nach einer vereinfachten EU-Zertifizierung seiner neuen Produkte. Die Operation-Libero-Studenten fordern die erneute EU-Finanzierung ihrer Erasmus-Partysemester im Ausland. Die EU hat die Aushandlung solcher sektoralen Abkommen an den Fortschritt des von ihr verlangten institutionellen Rahmenabkommens gekoppelt. Aber aus Schweizer Sicht besteht in keinem Bereich dringender Handlungsbedarf.

Nicht leicht überbrückbar

Ein solches dynamisches Rahmenabkommen, wie es die EU von der Schweiz fordert, hat eine weittragende, kaum noch abschätzbare Auswirkung. Die Auslegungsdifferenzen mit der EU sind nicht leicht überbrückbar. Man erinnere sich an die politischen Eiertänze bei den Parallelimporten, als man der Schweizer Pharmaindustrie ­Privilegien gewähren musste. Oder an die unzähligen helvetischen Ausnahmen beim einseitig eingeführten Cassis-de-Dijon-Prinzip. Der EUGH toleriert solche Ausnahmen nicht.

Man vergegenwärtige sich die ständige Kritik aus der EU an den flankierenden Lohnschutzmassnahmen der Schweiz (8-Tage-Regel oder Kautionspflicht). Sie geht von einigen Tieflohnbaufirmen in Frankreich und in Deutschland aus. Unser Schutzprinzip «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort» würde durch die EUGH-Praxis ausgehebelt. Wer das dynamische Binnenmarktrecht kennt, kann nie und nimmer mit einer schnellen Einigung mit der EU rechnen.

Keine Frist bis Ende Jahr

Eine Terminsetzung für ein Rahmenabkommen Schweiz–EU wird Bundesbern unter politischen Druck setzen. Aus der Wirrnis um die Europa­politik der letzten Jahre sollte man indes seine Lehren ziehen. Der Bundesrat müsste sich mit Klartext und offener Sprache selber mehr Spielraum verschaffen.

Der nötige Klartext muss heissen: Eine Aushandlungsfrist bis Ende dieses Jahres ist unrealistisch und kommt nicht infrage. An sich liegt ein institutionelles Rahmenabkommen, wenn überhaupt, erst dann in Reichweite, wenn der Brexit vollzogen ist und Grossbritannien als Drittland gegenüber der EU auftreten wird.

Den Zeitdruck in den EU-Verhandlungen abbauen, die internen Reihen schliessen, die Rasa-Initiative ohne Nervosität vom Tisch bringen: Das wäre jetzt kluge Politik! Wenn sich die Regierung auf eine längerfristige Strategie einigt und den Verhandlungsprozess auch mal vom Ende her denkt, kann sie wieder Führung markieren. Ohne solche klare Führung werden es die Fundamentalisten des Pro-EU- und des Anti-EU-Lagers nicht lassen, Politik und Volk mit Volks­initiativen vor sich her zu treiben. Die Regierung könnte dann sogar wieder regieren und sich anderen drängenden Fragen zuwenden.

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