Kolumne Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger – Dienstag, 15. November 2016
Man rieb sich die Augen, am Morgen nach dieser amerikanischen Präsidentenwahl. Kaum ein Analytiker oder Meinungsforscher hatte den Wahlschock vorausgesehen. Offensichtlich leiteten andere, tiefere Motive das Verhalten der Wählerinnen als die widerlichen Provokationen des Immobilientycoons gegen die politische Korrektheit.
Überraschendes Wählerverhalten, das sich gegen die herrschenden Eliten richtet, haben wir indes in letzter Zeit mehrmals erlebt, mit ähnlich gelagerten «Betriebsunfällen». Am 23. Juni bewirkte der Brexit-Entscheid Grossbritanniens einen solchen Abstimmungsschock. Am 6. April sorgte das holländische Stimmvolk für die Blockierung des EU-Abkommens mit der Ukraine und stoppte damit die Brüsseler Osterweiterungspläne. Auch unser 9. Februar 2014 mit der überraschenden Annahme der Masseneinwanderungsinitiative provozierte die Konsternation der Eliten. Weitere Zitterpartien werden erwartet: bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl Anfang Dezember und nächstes Jahr bei den Wahlen in Frankreich, Deutschland, Holland.
Die politische und intellektuelle Elite hat sich ihre eigene Meinung über diese unerwünschten Volksentscheide gezimmert und diese zur herrschenden Meinung gemacht. Ihre Killerphrase heisst: Das ist Populismus! Man ortet überall Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Volk, man disqualifiziert die anderen als Wutbürger, als Menschen mit «niederen Instinkten», wie ein Zürcher Philosophieprofessor sagte. Und die noch amtierende Nationalratspräsidentin Christa Markwalder spitzte ihr politisches Fazit nach den US-Wahlen zu auf die ultimative Formel: «Vernunft oder Populismus!»
Gewiss gibt es einen Grundstock an rassistischem und fremdenfeindlichem Gedankengut sowie eine wachsende Verbreitung von nationalistischen Geschichtsbildern. Aber diese erklären noch nicht den fundamentalen Vertrauensverlust einer ganzen Bevölkerungshälfte.
Die Medien haben meist nur die ausländer-und frauenfeindlichen, eliteverhöhnenden Ausfälle des Wahlkämpfers Trump beachtet und kolportiert. Aber sie haben übersehen, dass er zwischenhinein zutiefst existenzielle Erfahrungen von Millionen Amerikanern ansprach, etwa die Arbeitsplatzverluste durch Deindustrialisierung und die Abwanderung von Arbeitsplätzen nach Mexiko oder China, die soziale Deklassierung der hart arbeitenden Mittelschichten, die Entfremdung in den Städten, die erlebte Arroganz der globalisierten Eliten und der Wallstreet-Banker. Diese existenziellen Erfahrungen und Ängste der Menschen waren verhaltensleitend. Trump bot Sicherheit an. Die Wirkung sozialer und existenzieller Ankerangebote, die charismatische Figuren wie Donald Trump, Marine Le Pen, Nigel Farage oder auch Christoph Blocher versprechen, wird unterschätzt.
Die intellektuelle Elite befriedigt sich mit herablassenden Analysen und überheblichen Urteilen über die sogenannten Populisten, Nationalisten, Abschotter, Ausländerfeinde. Dabei bemerken die Intellektuellen gar nicht, dass sie so die anderen verletzen und erzürnen. Kein Wunder, dass die Menschen bei Meinungsumfragen nicht mehr zu ihren Stimmabsichten stehen.
In den reichen Industriestaaten erleben wir weltweit eine extreme gesellschaftliche Auseinanderentwicklung und kulturelle Polarisierung zwischen globalisierten, akademisierten Eliten und einer pragmatischen, an ihren Familieninteressen orientierten Arbeitsbevölkerung. Die internationalistisch orientierten Eliten in Regierungen, Universitäten und Konzernen werden nicht mehr verstanden, sie stecken in einer Art kultureller Akademisierungsfalle; sie übersehen den Vertrauensverlust, den der globalisierte Kapitalismus schafft. Die gehäuften plebiszitären «Betriebsunfälle» bei Wahlen und Abstimmungen sind ein Aufstand von unten!
Globalisierung bringt beides, Wohlstand und Entfremdung. Sie nützt den einen und schadet den anderen. Meine erste Stelle als Ökonom nach der Uni trat ich bei der Welthandelskonferenz Unctad an, danach wurde ich Geschäftsleiter der Erklärung von Bern. Seit dieser Zeit bin ich mit dem Internationalismus vertraut und vertrete dezidiert die Erfahrungstatsache, dass eine Globalisierung ohne soziale und ökologische Leitplanken sowie eine freie globale Migration nicht nachhaltig sind. Das herrschende WTO-Freihandelssystem von 1995 ist sozial und ökologisch blind. Erst jetzt, nach zwei Jahrzehnten Erfahrung mit Freihandel, Massenmigration, globalem Finanzkapitalismus und Kapitalkonzentration in historischem Ausmass, kommt die politische Quittung in Form von Protektionismus und Migrationsabwehr. Diese Art von Internationalismus läuft in die Sackgasse.
Verlierer der Hinwendung zu nationalistischen Parteien sind aber stets die politische Mitte und die aufklärerischen, linksliberalen und linken Kräfte – in der Schweiz wie anderswo.
Die Selects-Wähleranalyse der Nationalratswahlen 2015 zeigt, dass unter den Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürgern mit einem Berufslehrabschluss – sie machen die Hälfte der Bevölkerung aus – nur noch 15 Prozent die SP wählten, aber 43 Prozent die SVP. Eine kürzlich durchgeführte Befragung von Jungen (Rekruten und gleichaltrige Frauen) ergab, dass sich 33 Prozent der Jungen heute der SVP verbunden fühlen und nur 11 Prozent der SP. Die SVP ist zur Arbeiterpartei geworden, obschon sie, programmatisch und objektiv betrachtet, nichts, aber gar nichts für die Arbeitnehmer tut.
Die Sozialdemokratie verliert jene, die sie zu vertreten meinte. Sie bedient sich heute einer elitären akademischen Sprache, welche die Medienleute vielleicht anspricht. Die meisten Menschen aber verstehen sie nicht. Die SP bewegt sich in einem akademischen Resonanzraum und lässt sich darin täglich bestätigen.
Die SP hat völlig verkannt, wie stark die Migrationsproblematik die Wähler beschäftigt. Mit dem Ideal der freien Zuwanderung hat sie die pragmatische Intelligenz und die existenziellen Interessen einer breiten Arbeitnehmerschaft schlicht ignoriert. Die Karriere-, Berufsbildungs-und Weiterbildungsbedürfnisse der nicht akademischen Arbeitnehmerschaft und der jungen Berufsarbeiter hat sie vernachlässigt. Die erfolgreiche Themenführerschaft für einen griffigen Inländervorrang auf dem Arbeitsmarkt – der notabene von der gesamten Arbeitnehmerschaft dringend gewünscht wird – überliess sie dem freisinnigen Gipsermeister Philipp Müller.
Es ist richtig, nach dem Weckruf des Trump-und Le-Pen-Traumas die eigene Strategie zu überdenken. Aber daraus nun eine neue Klassenkampfstrategie abzuleiten, wie dies in einem neuen SP-Wirtschaftsprogramm vorgesehen ist, entspringt reinem Wunschdenken. Klassenkampf würde ja ein historisch verankertes Klassenbewusstsein erfordern. Ein solches gibt es nicht mehr. Mit Klassenkampfrhetorik holt man keine Arbeitnehmer zurück.
Einen Weg zwischen ihren alten Idealen und den neuen Realitäten hat die Sozialdemokratie noch nicht gefunden.