Kolume im Tagesanzeiger/Bund vom 06.12.2016
Kurz vor Schluss bringt das Parlament in dieser Session doch noch einen praktikablen Weg raus aus der Sackgasse der Personenfreizügigkeit zustande. Es wurde auch Zeit: Die dreijährige Frist für die Umsetzung des Verfassungsartikels der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) läuft in zwei Monaten aus.
Wir blicken zurück auf drei Jahre parteipolitischer Ränkespiele und ideologischer Verrenkungen. Viele Bürger mochten angesichts der Varianten und Taktierereien der Umsetzung dieser so umstrittenen Initiative gar nicht mehr folgen. Und mindestens ebenso viele glauben nicht mehr an die Verfassungstreue der Politiker.
Der Bundesrat hatte weder die Kraft noch die innere Einheit, eine wirksame Umsetzung der Initiative vorzubereiten. Er hatte sich zu lange nach dem schwächelnden Dachverband Economiesuisse ausgerichtet. Nun hat der Ständerat dank dem Kraftakt eines Einzelnen einen vorläufigen Kompromiss vorgezeichnet.
Dieser Vorschlag kam von Ständerat Philipp Müller. Nach vielen Gesprächen hatte der ehemalige FDP-Präsident fast im Alleingang ein pragmatisches Modell formuliert, das einen Inländervorrang auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt vorsieht. Adressat: die staatspolitische Ständeratskommission. Der Bundesrat schloss sich erst in letzter Minute an und unterstützt heute das Konzept – gegen den Widerstand aus dem Economiesuisse-hörigen Wirtschaftsdepartement von Johann Schneider-Ammann.
Vorrang für hiesige Stellensuchende
Wie soll nun die zukünftige Arbeitsmarktsteuerung nach den Parlamentsbeschlüssen konkret vor sich gehen? In etwa so:
Erstens müssen in Zukunft Arbeitgeber, die eine Person aus dem Ausland neu anstellen wollen, die offene Stelle dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) melden, wenn diese Stelle einer Berufsgruppe oder einem Tätigkeitsbereich zuzuordnen ist, bei denen die hiesige Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist. Es betrifft also jene Berufe, bei denen ein Überschuss an einheimischen Stellensuchenden zur Verfügung steht. Diese Meldepflicht des Arbeitgebers entfällt, wenn er die Stelle von vornherein mit einem Inländer (Schweizer oder hiesige Ausländer) oder mit einem bereits früher bei ihm Beschäftigten besetzen will.
Zweitens gleicht das RAV die gemeldete offene Stelle mit seinen internen Listen der Stellensuchenden ab – schweizweit sind das derzeit rund 210 000 Personen. Und es kann darauf dem Arbeitgeber geeignete Stellensuchende vorschlagen. Diese erhalten dann eine exklusive Vorausfrist beim Zugang zur Stellenausschreibung.
Drittens muss der Arbeitgeber bei drei bis fünf Stellensuchenden die Bewerbungen prüfen und einzeln ein echtes Bewerbungsgespräch durchführen. Erst nach der Ablehnung dieser Bewerber darf er eine Person aus der EU einstellen. Die vom Ständerat vorgesehene Pflicht zur Begründung der Ablehnung fällt wahrscheinlich weg. Aber die gänzliche Unterlassung dieser Bemühungen durch eine Firma wird mit einer Busse bestraft.
Soweit die neuen Arbeitsmarktregeln. Der anvisierte Inländervorrang ist faktisch ein Arbeitslosenvorrang im schweizerischen Arbeitsmarkt.
Nach den neusten Zürcher Erhebungen sind nur 20 Prozent aller im Ausland rekrutierten Arbeitskräfte wirklich dem inländischen Fachkräftemangel zuzuordnen. Rund 80 Prozent sind Rekrutierungen von (meist billigeren, jüngeren) ausländischen Arbeitskräften, statt deren es auch im Inland geeignete Arbeitslose und Stellensuchende gibt. Am grössten ist dieser Verdrängungseffekt von hiesigen durch ausländische Arbeitskräfte in folgenden Branchen: Gastgewerbe, Bau, Detailhandel, Reinigung – sowie berufsübergreifend bei den über 50-Jährigen. Für die Älteren ist allerdings keine zusätzliche altersspezifische Bevorzugung vorgesehen.
Allerdings ist dieser Lösungsvorschlag von der stringenten Umsetzung durch den Bund und von der Strenge der Kantone abhängig. Es wird auf die Praxis der RAV bei der Umsetzung ankommen. Die RAV-Personalberater müssen genügend Zeit für die Vermittlung erhalten. Zuständig für die Umsetzung ist das Seco, dessen Chef der Direktion für Arbeit, Boris Zürcher, vor der Ständeratsberatung den Inländervorrang öffentlich schlechtredete und den liberalisierten Arbeitsmarkt wie eh und je hochpries. Mit unrealistisch hohen Zahlen an sogenannten Bürokratiekosten versuchte das Seco die Inländerlösung zu sabotieren.
Doch allein die Arbeitslosenversicherung kostet den Bund jährlich rund 6,7 Milliarden Franken – wobei die Sozialhilfekosten der Ausgesteuerten nicht enthalten sind. Jedes Tausend Arbeitslose weniger bringt jährlich 50 Millionen Einsparungen bei der Arbeitslosenversicherung und reduziert die Steuerausfälle. Nötig sind konkrete Ausführungsbestimmungen des Bundesrats. Die Umsetzung des Inländervorrangs durch das Seco muss beaufsichtigt werden.
Was ist von der EU zu erwarten? Vor der Ständeratsdebatte hatte der einflussreiche Kabinettschef des EU-Kommissionpräsidenten, Martin Selmayr, in Zürich eine Tolerierung des Inländervorrangs signalisiert. Doch es ist absehbar, dass bald gewisse EU-Ländervertreter aus Ost- und Südeuropa und Europarechtsjuristen protestieren werden. Und eingebettete Schweizer Journalisten werden das in ihrer devoten Art aus Brüssel rapportieren. Absehbar ist, dass die EU als Gegenforderung verstärkt eine Jurisdiktion des EuGH über das Schweizer Recht fordert.
Erst eine vorläufige Lösung
Ständerat Philipp Müller hat eine praktikable Lösung formuliert. Es stimmt, der Verfassungsartikel der MEI ist nur unvollständig umgesetzt; aber das ist noch kein Verrat am Volkswillen.
Der bisherige Fundamentalwiderstand der SVP gegen den Inländervorrang, den sie zuvor mit ihrer Volksinitiative selber gefordert hatte, erscheint doppelbödig. Und der Alleingang der CVP mit ihrem unwirksamen, unpraktikablen und EU-widrigen Schwellenwertmodell wird in der Bevölkerung sicher nicht verstanden.
Das Konzept des Ständerats für den Inländervorrang muss noch an seinen Resultaten gemessen werden. Es ist indes intelligenter und realistischer als jene elitäre Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa-Initiative), die den vom Volk angenommenen MEI-Artikel 121a wieder aus der Bundesverfassung streichen will. Diese Initiative polarisiert nur. Und sie bringt keine, aber auch gar keine Lösung für den Alltag der Arbeitnehmenden und Stellensuchenden.
Die Migration ist auch innerhalb der EU dermassen umstritten, dass in drei bis fünf Jahren das Migrationsrecht innerhalb Europas wohl anders aussehen wird. Die Völker Europas werden durch Wahlen und Plebiszite in ihren Ländern die Europäische Union von unten her verändern. Dies wird auch bei uns den Spielraum zur Steuerung der Zuwanderung erweitern.