Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 05.01.2016
Nie zuvor in der Währungsgeschichte hatte die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Finanzmärkte rund um den Globus kurzfristig derart durcheinandergebracht wie am 15. Januar 2015. Ein Jahr danach sehen wir in der schweizerischen Wirtschaft noch längst nicht alle Auswirkungen der Frankenaufwertung. Dank stabiler Binnenwirtschaft haben wir zum Glück keinen generellen Wirtschaftseinbruch.
Aber die Schweiz erleidet eine Industrierezession, eine Rezession der Exportwirtschaft. Das Wirtschaftswachstum hat sich 2015 auf 0,7 Prozent halbiert. Unter Einbezug der Bevölkerungszunahme – auch 2015 gab es rund 75’000 Nettozuwanderung, ohne Flüchtlinge gerechnet – war die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts pro Kopf allerdings negativ.
Die schweizerische Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie erlitt von Januar bis November einen Exporteinbruch von 6,8 Prozent. Der Tourismus erhielt 13 Prozent weniger Gäste aus der EU. Der Detailhandel erfuhr für 11 bis 12 Milliarden Franken Einbussen an Privateinkäufen durch den Einkaufstourismus im Ausland. Die einzigen Gewinner sind die Einkaufstouristen. Aber 87 Prozent der Unternehmen haben 2015 laut einer Umfrage der SNB tiefere Margen.
Die nachhaltigeren Auswirkungen werden sich allerdings erst durch die Produktionsverlagerungen ins Ausland einstellen. Ein neuer Desindustrialisierungsschub im Werkplatz Schweiz ist im Gange. Wenn die Produktion einmal ins Ausland verlagert worden ist, kommt sie nie mehr zurück! In Hunderten von Exportbetrieben wird seit dem Frühjahr 2015 drei, vier Wochenstunden länger gearbeitet – bei gleichem Lohn. In unzähligen Arbeitnehmerfamilien mit Kindern bringt dies das Zeitbudget durcheinander und erfordert Opfer. Man nennt diese Rosskur «innere Abwertung».
Musste das sein? Hätte man, so fragen sich viele, währungspolitisch auch anders fahren können? Hätte es Alternativen gegeben? Die Welt der Ökonomen ist gespalten. Finanzmarktjournalisten und Marktgläubige finden die Schocktherapie der SNB mutig. Volkswirtschafter mit gesamtwirtschaftlicher, makroökonomischer Optik sowie Exportunternehmer sind auch nach einem Jahr noch konsterniert. Was lässt sich heute dazu sagen?
- Erstens sind die Währungsschocks, die das Nationalbank-Direktorium am 15. Januar 2015 als bevorstehende Gefahr ins Feld geführt hatte, nie eingetreten. Weder die expansive Geldpolitik durch die EZB noch die Griechenland-Turbulenzen haben im vergangenen Jahr die Euro-Wechselkurse durcheinandergebracht.
- Zweitens ist die Behauptung der SNB, sie müsse bei weiterhin festem Wechselkurs mit Devisenkäufen intervenieren, dadurch unbegrenzt Geld schöpfen und ihre Bilanz ständig ausdehnen, in sich zusammengebrochen. Das schlagendste Argument dagegen hat der Doyen der schweizerischen Geld- und Währungspolitik, der Basler Professor Peter Bernholz, geliefert: «Von den 40 Monaten, welche das Regime des festen Euro-Mindestkurses (von 1.20 Franken pro Euro) dauerte, hat die SNB nur gerade während 4 Monaten intervenieren müssen.»
- Drittens hat die Nationalbank Dänemarks, die in einer ähnlichen Situation steckt, durch ihre ruhige, glaubwürdige Strategie trotz aller Turbulenzen den Wechselkurs zwischen Euro und Dänischer Krone seit nunmehr 14 Jahren stabil halten können. Freilich musste auch sie eine Vervierfachung ihrer Bilanz in Kauf nehmen.
Die Nationalbank-Leitung unter Thomas Jordan hat nie ökonomische Argumente für ihre Kursfreigabe geliefert. Bis heute verweist sie auf die Gefahr einer expandierenden Nationalbankbilanz. Der St. Galler Ökonom Franz Jaeger spitzte seine Kritik mit der Frage: «Darf es sein, dass unsere Währungshüterin (die SNB) sozusagen definitiv das Risikomanagement ihrer eigenen Bilanz höher rangiert als die Abschirmung unseres Wohlstand generierenden Exportsektors (inklusive Tourismus) und Werkplatzstandorts Schweiz gegenüber exzessiven und substanzraubenden Währungsschocks?»
Solche Professorenmeinungen lassen sich pointierter zusammenfassen: Ist für das ängstliche dreiköpfige SNB-Direktorium die eigene Bankbilanz wichtiger als das Wohlergehen Tausender Exportunternehmen des Landes? Es hatte im Dezember 2014 und Januar 2015 schlicht und einfach die Nerven verloren.
Alle westlichen Nationalbanken mussten die Bilanzen seit der Finanzkrise massiv ausdehnen, um ihre nationale Volkswirtschaft zu retten. Im angelsächsischen Raum ist es selbstverständlich, dass die Notenbank mit ihrer Geld- und Währungspolitik die Gesamtwirtschaft ihres Landes stützt, das gilt heute sogar auch in der EZB. Die Schweizerische Nationalbank würgt im Gegensatz dazu die Konjunktur ab. Ein Unikum!
Der Reformbedarf der SNB
Im vergangenen Jahr wurde allerdings auch der Reformbedarf für die Institution Schweizerische Nationalbank deutlich. Unabhängig von der Parteifarbe und der ökonomischen Lehrmeinung ist bewusst geworden, dass mindestens in vier Bereichen eine Überprüfung nötig ist.
Erstens ist eine SNB-Führung mit nur drei Direktoriumsmitgliedern, welche ohne wirksame Rechenschaftspflicht derart weittragende Entscheide für das Land verantworten, nicht mehr zeitgemäss. Keine Währungsbehörde in den Hartwährungsländern (Fed, EZB, Bank of England, Bank of Japan ) hat eine so schmal aufgestellte Leitung wie die SNB. Die Nationalbank muss unabhängig sein, aber sie braucht eine Erweiterung des Direktoriums mit einem Pluralismus an ökonomischen Sichtweisen.
Zweitens ist eine Diskussion über die Ziele der Geld- und Währungspolitik fällig. Die Rücksichtnahme auf die konjunkturelle Entwicklung muss verstärkt werden. Die Inflationsbekämpfung ist im Zeichen der offenen Gütermärkte in den Hintergrund gerückt.
Drittens: Die Ausgliederung eines Teils des Nationalbankvermögens von heute über 600 Milliarden Franken in einen externen Fonds («Staatsfonds») wird auch von ehemaligen kompetenten Entscheidungsträgern der Nationalbank gefordert. Vom heutigen ängstlichen Direktorium wird sogar die Diskussion darüber abgeblockt.
Viertens muss die Ablieferung von Gewinnanteilen der SNB an die Kantone gesetzlich klarer geregelt werden: Die effektiven Kapitalerträge (Anlageerträge) des Nationalbankvermögens gehören den Kantonen. Aber die rein buchmässigen Währungsgewinne und –verluste, um die ständig ein unnötiges Tamtam gemacht wird, sind in der SNB-Bilanz separat auszuweisen und zu behandeln.
Kreise aus der Exportwirtschaft und der Wissenschaft fordern eine erneute Anbindung des Frankens an einen Währungskorb, zum Beispiel an eine Kombination von Euro, Dollar, Pfund und Yuan. Ich halte sie für zukunftstauglich, sie ist ausgleichender und stabiler. Sie wäre schon vor einem Jahr möglich gewesen!
Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass dies mit dem heutigen SNB-Direktorium möglich ist. Denn wer einmal eine derart dogmatische Kehrtwende inszeniert hat wie im Januar 2015, kann gegenüber den spekulativen Finanzmärkten nie mehr glaubwürdig einen fixen Wechselkurs verteidigen.