Was selbst EU-Experten verwirrt

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 2.Juli 2019

Das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der
Europäischen Union polarisiert. Harte Meinungsunterschiede gehen quer
durch Parteien, Geschäftsleitungen, Redaktionen, Freundeskreise und
Familien. Je weniger man den Inhalt kennt, desto mehr spielen in den
Diskussionen auch Weltanschauung und vorgefasste Meinungen eine Rolle.
Diese polarisierende Unbestimmtheit hat einen Grund: Bei dem Abkommen
geht es weniger um Inhalte als um Prozeduren. Es regelt zwar
Anpassungsverfahren, Streitbeilegungsverfahren, das zukünftige Verfahren
beim Ersatz des alten Freihandelsabkommens. Aber das materielle Recht

kommt nur beschränkt vor, in zwei Protokollen zur Arbeitsmarktkontrolle und
zum Verkehr.
Verfahrensfragen sind im Rahmenabkommen klar definiert. Welche
inhaltlichen Auswirkungen jedoch aus späteren Anpassungen ans EU-Recht
folgen, ist Interpretationssache. So kommt es zu regelrechten
Gutachterkriegen unter Experten. Darum versuche ich hier, objektiv
aufzuzeigen, was einerseits im Abkommenstext unumstösslich gesichert und –
nach Meinung der EU – unverhandelbar ist und was anderseits reine
Interpretation darstellt. Basis ist der 35-seitige Text.
Die Arbeitsmarktpolitik der Schweiz würde in vielen Bereichen in die

Europäische Union ausgelagert.Source

Der erste Eckpunkt betrifft die Reichweite der Regeln und Abkommen,die von
der Schweiz dynamisch anzupassen sind: Es geht vor allem um die
Personenfreizügigkeit, zu der nach Auffassung der EU auch die flankierenden
Lohnschutzmassnahmen der Schweiz, die EU-Entsenderichtlinie und die
Unionsbürgerrichtlinie integral gehören. Bei diesem Thema hatte der
Bundesrat in seinem Verhandlungsmandat eine rote Linie gezogen. Die
Unionsbürgerrichtlinie regelt den erleichterten Zugang von Migrantinnen und
Migranten zum Sozialsystem.
Zudem werden im Rahmenvertrag die Abkommen zum Landverkehr auf
Strasse und Schiene, zum Luftverkehr, zur Anpassung von internationalen
Produktnormen und zum Agrarhandel eingeschlossen. Aber auch alle
künftigen Abkommen werden vorauseilend dem Rahmenabkommen und
seinem Sanktionsmechanismus unterstellt.
Der zweite unumstössliche Verfahrenseckpunkt betrifft die Frage, wie
verbindlich das EU-Recht in der Schweiz durchgesetzt werden wird. Wenn sich
die Schweiz in den erwähnten Bereichen nicht vollständig ans EU-Recht
anpasst, wird zunächst ein gemeinsamer Ausschuss angerufen und danach ein
paritätisches Schiedsgericht eingesetzt. Wenn es aber um eine Auslegung oder
Anwendung des EU-Rechts geht (was meist der Fall sein wird), ruft dieses
Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof an, der dann definitiv urteilt,
was gilt.

EU kann das Abkommen aufkünden
Im zentralen Artikel 10 Absatz 3 des Rahmenabkommens heisst es wörtlich:
«Das Urteil des Gerichtshofsder Europäischen Union ist für das Schiedsgericht
verbindlich.» Im massgeblichen französischen Orignaltext heisst es sogar: «…
lie le tribunal arbitral. «Lier» heisst «binden, festbinden, verpflichten, fesseln»
und ist nach Aussage von Diplomaten noch imperativer. Der Europäische
Gerichtshof ist keine neutrale Instanz, sondern das Parteigericht der EU.So
weit ist das Abkommen eindeutig. Doch hier beginnt der politische
Interpretationsstreit über die Folgen.
Diese Verfahrensbestimmung bewirkt längerfristig eine Delegation der
schweizerischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in vielen Bereichen an
die EU. Es wäre ein Politik-Outsourcing nach Brüssel. Darum ist es nur
konsequent, wenn Gewerkschaften und Gewerbeverbände die Entscheidgewalt
zum schweizerischen Arbeitsmarkt und Lohnschutz nicht an die Jurisdiktion
des arbeitnehmerkritischen Europäischen Gerichtshofs übertragen wollen.
Der dritte Verfahrenseckpunkt betrifft die Folgen, falls sich die Schweiz trotz
einem verbindlichen Richterspruch des Gerichtshofs «nicht innerhalb einer
angemessenen Frist» anpasst. Gemäss Artikel 10.6 des Abkommens kann die
EU «Ausgleichsmassnahmen bis hin zur teilweisen oder vollständigen
Suspendierung des/der betroffenen Abkommen/s ergreifen».
Langfristige Konsequenzen sind offen
Unter Ausgleichsmassnahmen sind wirtschaftliche Strafen zu verstehen. Der
sachfremde Entzug der Börsenäquivalenz ist dafür ein Beispiel. Mit dem

Rahmenabkommen kann allerdings das Schiedsgericht die Ver-
hältnismässigkeit von Sanktionen verbindlich beurteilen. So weit die

gesicherte Aussage im Abkommen. Aber auch hier sind Aussagen zu den
Folgen Ansichtssache.
Ein vierter Verfahrenseckpunkt ist im Schlussteil des Abkommens in einer
gemeinsamen Erklärung EU – Schweiz aufgeführt, die eine rasche
«Modernisierung» des alten Freihandelsabkommens von 1972 zwingend
vorsieht: «Innerhalb von sechs Monaten nach der Verabschiedung dieser
Erklärung werden die Unterzeichnenden die internen Schritte im Hinblick auf
die Aufnahme formeller Verhandlungen im Laufe des Jahres 2020 einleiten.»

Unter Modernisierung des Freihandelsabkommens ist eine Totalrevision zu
verstehen, die nach heutigem Verständnis der EU zwingend auchdie
staatlichen Beihilfen (zum Beispiel Subventionen für den Wohnungsbau,
Staatsgarantien von Kantonalbanken, Gebäudeversicherungen), das
Kartellrecht, die Wettbewerbspolitik, Teile des Unternehmenssteuerrechts
umfasst und die Jurisdiktion dazu gemäss dem Rahmenabkommen an den
Europäischen Gerichtshof delegiert.

Die längerfristigen Konsequenzen dieser weiteren Integration in die EU-
Gesetzgebung und die EU-Rechtsprechung sind offen. Sicher ist aber, dass der

Prozess der Übertragung von Teilen der schweizerischen Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftspolitik an Brüssel weitergehen wird.

Online Artikel:
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/was-selbst-euexperten-verwirrt/story/25406493