Was im Lehrplan 21 nicht fehlen darf

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 6. August 2013

Jetzt läuft in den Kantonen die Vernehmlassung zum Lehrplan 21. Die bisherige Schuldebatte zeigt: Was da nicht alles von der Schule erwartet und verlangt wird! Die Lehrpersonen sollen den Schülern – je nach Standpunkt – mehr Wissen vermitteln, ihnen Anstand und Fleiss beibringen, sie auf das Gymnasium hin trimmen und ihnen gleichzeitig das Wegwerfen von Pappbechern austreiben und die im Elternhaus vernachlässigte Sexualkunde nachholen.

Der skurrile ETH-Professor Juraj Hromkovic fordert, dass die Schule nicht nur vermittelt, wie Computer zu gebrauchen, sondern auch wie sie zu programmieren sind. Der pensionierte Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner will sein veraltetes Wirtschaftswissen, mit dem er eine Generation von Studenten auf die neoliberale Glaubensgemeinschaft eingeschworen hat, auch im Lehrplan 21 verwirklicht sehen. Der nationalkonservative Ulrich Schlüer wiederum will die «Kuschelpädagogik » austreiben und die alte Paukerschule aufleben lassen. Sein Gegen-Lehrplan enthält als Pflichtstoff ein geradezu lexikalisches Wissensprogramm.

Was haben wir in den letzten Jahrzehnten nicht alles an pädagogischen Doktrinen und Lehrmeinungen erfahren, immer mit professoralem Imponiergehabe vorgetragen und mit den aktuellsten Modetheorien unterlegt! Die Schulen wurden von Reform zu Reform gejagt, im bildungspolitischen Horrorkanton Zürich noch mehr als anderswo. Eine politische Polarisierung beim Thema Schule und ein wachsender Reformwiderstand bei Eltern und Lehrern sind die Folgen.

Nun kommt mit dem Lehrplan 21 eine neue Reformrunde auf die Schulen und Lehrpersonen zu. Sieben Jahre hat es gedauert, bis die 21 Deutschschweizer Kantone dem 2006 festgeschriebenen Bundesverfassungsauftrag bezüglich Schulkoordination ein Stück weit nachgekommen sind. Es ist allerdings eine Koordination mit Mängeln: Die Bemühungen um einen harmonisierten Fremdsprachenunterricht in allen Deutschschweizer Kantonen sind gescheitert. Der kantonale Wirrwarr von Frühfranzösisch und Frühenglisch, der unterschiedliche Gebrauch von Hochdeutsch und Mundart werden bestehen bleiben und alle Familien irritieren, die von einem Kanton in einen anderen ziehen.

Als wichtigste Neuerung formuliert der Lehrplan 21 für alle Kantone die «Kompetenzen», die von den Schülern auf einer jeden Stufe erworben werden sollen. Er definiert nicht bloss Lernziele wie früher, sondern beschreibt die zu erreichenden Fähigkeiten für jedes Fach. Wissen allein genügt nicht mehr, man muss es auch anwenden können. Das ist eine gute Entwicklung. Sie bringt den Schülern sowohl unmittelbaren wie späteren Nutzen, in der Ausbildung und bei der Arbeit.

Wir sollten uns bescheiden: Für uns Laien ist es schwierig, die Qualität und Praktikabilität des Lehrplans 21 zu beurteilen. Vor parteipolitischer Instrumentalisierung und interessenorientierten Interventionen in der Vernehmlassung ist zu warnen. Erfahrene Lehrpersonen wissen besser, was die Schule und die Schüler brauchen als Politiker, Eltern und Universitätsprofessoren. Die Lehrerschaft verdient mehr Respekt, sie erfüllt unbestritten die gesellschaftspolitisch wichtigste Rolle in unserem Land.

Auf einen Punkt allerdings müssen wir bei der Ausgestaltung des Lehrplans 21 achten, weil es um eine gesellschaftspolitische Weichenstellung geht: Die Schule darf nicht einseitig und kopflastig nur die schulisch-kognitiven Fähigkeiten fördern, wie sie von den Pisa-Tests diktiert und später in den akademischen Bildungsgängen bis zum Exzess praktiziert werden – im Zeichen des importierten Bologna-Systems.

Die Schule muss auch in Zukunft die praktischen Fähigkeiten fördern und bewerten – von handwerklichen über gestalterische und musische bis hin zu emotionalen und sozialen Fähigkeiten. «Praktische Intelligenz» heisst, Wissen auch anwenden zu können, dabei «Kopf, Herz und Hand» zu benutzen. Es braucht ein Lernen fürs Leben, nicht nur für Noten. Deshalb muss Werken oder Gestalten als Fach auf allen Stufen und für alle Schüler obligatorisch bleiben. Auch die Hauswirtschaft, eingebaut ins Fach Wirtschaft, Arbeit, Haushalt, ist nötig. Und besonders wichtig ist es, in der Oberstufe (im Fachjargon: Sekundarstufe I) das Fach Berufliche Orientierung, also die Berufswahlkunde, beizubehalten oder einzuführen und dies in allen Leistungszügen.

In den Kantonen Basel-Stadt und Baselland ist unter dem Druck der Gymnasien und der Bildungselite schon vorab entschieden worden, dass für die Berufliche Orientierung nur eine Wochenstunde in der achten Klasse eingesetzt werden soll, im neunten (letzten) Schuljahr keine. Das ist kurzsichtig, elitär und dumm. Dieses für die meisten Schüler existenziell wichtige Fach sollte überall auch im letzten Schuljahr unterrichtet werden, um Lehrstellenbewerbungen, Schnuppereinsätze in Betrieben und allfällige Bewerbungsabsagen zu begleiten.

Für angehende Gymnasiasten ist die Berufswahlkunde keine Zeitverschwendung. Die Berufe und die entsprechenden Ausbildungsangebote zu kennen, ist auch für sie wichtig, zumal ein Sechstel von ihnen erfahrungsgemäss die Matura nicht macht, ein weiteres Sechstel nach der Maturität eine Berufsausbildung ausserhalb des Hochschulsystems wählt und ein weiteres Sechstel die Uni nicht abschliesst und sich beruflich anders ausrichten muss.

Das Fach Berufliche Orientierung dient nicht dem Zweck, die Schule der Wirtschaft dienstbar zu machen, wie elitäre Bildungspolitiker gern behaupten. Vielmehr geht es darum, dass die Schüler ihre Fähigkeiten und Neigungen selber beurteilen lernen. Sie müssen sich später im Lehrstellen- und Arbeitsmarkt zurechtfinden können.

Europäische Länder, die keine Berufslehre kennen und den Jugendlichen nur vollschulische und akademische Bildungsgänge anbieten, bezahlen für die Akademisierung des Bildungssystems mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Ein Drama: Diese Länder stecken in einer Akademisierungsfalle.

Achten wir beim Lehrplan 21 darauf, dass wir nicht auch in diese Falle geraten!

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