Unser täglicher Agrar-Irrsinn

Kolume im Tages-Anzeiger – Dienstag, 2. Oktober 2012

Unser täglicher Agrar-Irrsinn  Wer liebt sie nicht, die gackernden Hühner, die herzigen Kälbli und die rosaroten Ferkel auf dem Bauernhof. So wird die schweizerische Landwirtschaft in Fernsehspots gezeigt und an Burezmorge präsentiert. «Gut, gibts die Schweizer Bauern», wird uns werbemässig eingehämmert. Der Steuerzahler zahlt jährlich 55 Millionen Franken an die Werbekosten der Landwirtschaftsverbände.

Wir sollten genauer hinschauen, was hinter den verschlossenen Stalltüren alles abläuft. Die Agrarstatistiken zeigen eine andere Realität als die Werbespots: Was da vor allem in Mittellandbetrieben aus den prallen Eutern hochgezüchteter Milchkühe herausgepresst wird! Mittels Extremfütterung und importierten Kraftfutters wird die Milchleistung auf bis zu 10 000 Liter pro Kuh und Laktationsperiode von knapp einem Jahr gesteigert. Und auch bezüglich Fleischproduktion wird in den Tierfabriken gebolzt.

Wer weiss schon, dass die hoch subventionierte schweizerische Landwirtschaft heute mit ihren Futtermitteleinfuhren insgesamt 140 000 Hektaren Ackerfläche im Ausland beansprucht? Dies entspricht einem Drittel der Fruchtfolgeflächen in der Schweiz. 2011 importierte die Landwirtschaft laut der Futtermittelbilanz des Bundesamts für Landwirtschaft 294 000 Tonnen Soja und Sojaschrot für Kraftfutter. Diese Menge allein entspricht etwa 92 000 Hektaren Ackerland in Brasilien, das vor der Rohdung tropischer Regenwald war. Die Sojaimporte sind in den letzten Jahren geradezu explodiert. Das bedeutet: Nahrung wird dort den Armen entzogen – für das Vieh von uns Reichen. Das Ganze ist eine enorme Energieverschwendung. Denn mit 10 Kalorien an Kraftfutter wird bloss eine Kalorie an Fleisch und Milch erzeugt (früher war das Verhältnis noch 7 zu 1).

Zum Soja kommen weitere Kraftfutterimporte an Weizen, Mais, Melasse und anderen Rohstoffen. Die insgesamt 1,1 Millionen Tonnen an Importfutter heute übersteigen die gesamte inländische Futtermittelproduktion. Sie entsprechen 18 000 Terajoule an Energiezufuhr. Und damit erzeugt die schweizerische Landwirtschaft ständig zu viel Milch, Butter, Hartkäse und Schweinefleisch. Die Milch hat aufgrund der Kraftfutterbolzerei immer mehr Fettgehalt.

Die resultierenden Butterüberschüsse werden subventioniert und ins  Ausland verkauft, zum Beispiel in die reichen Golfstaaten, das überschüssige Milchpulver nach Afrika. Die Hartkäseproduktion funktioniert nur mit der Verkäsungszulage des Steuerzahlers, einer Bundessubvention auf verkäster Milch. Und Exporteure wie Nestlé erhalten für den Bezug von Schweizer Milch für exportierte Schokolade- und Milchprodukte aufgrund des «Schoggigesetzes» Bundessubventionen, die aus den zuvor abgeschöpften Importzollerträgen auf eingeführten Lebensmitteln stammen. Mit andern Worten: Die Schweizer Konsumenten bezahlen die grossen Exportfirmen für den Bezug inländischer Landwirtschaftsprodukte. Warum dürfen Nestlé und Co. ihre landwirtschaftlichen Rohstoffe, die sie für ihre Exporterzeugnisse verwenden, nicht direkt im preisgünstigeren Ausland beschaffen

Die industrielle Landwirtschaft im Talgebiet ist in einem selbst gewählten Teufelskreis: Überzüchtete Milchkühe und übergrosse Viehbestände verlangen immer mehr Futtermittelimporte. Die Überschüsse an Milch, Butter und Fleisch (insbesondere Schweinefleisch) erfordern wiederum höhere Kosten für die Vermarktung und Exportverbilligung. Zuletzt bleibt dem einzelnen Landwirt oft sogar weniger. Und weil diese Bauern weniger verdienen, forcieren sie die Produktion und importieren noch mehr Kraftfutter. Und die aktuell hohen Futtermittelpreise lassen ihren Gewinn weiter schmelzen. Jetzt fordern auch noch die Schweinemäster Bundessubventionen. So läuft unser alltäglicher Agrar-Irrsinn.

Einen ebensolchen Agrar-Irrsinn betreibt die EU mit langem Arm bis in die Schweiz: Auch bei uns gilt die EU-Regel, wonach Speisereste aus Restaurants nicht mehr Nutztieren verfüttert werden dürfen. Pro Jahr vernichten wir in der Schweiz in Befolgung von EU-Vorschriften 170 000 Tonnen hochwertige Lebensmittelabfälle, die früher sterilisiert der Schweinemast zugeführt wurden. Das entspricht dem Nährwert von 40 000 Tonnen Kraftfutter mit 8000 Tonnen Eiweiss. Die Ersatzproduktion an Futtermitteln  beansprucht weitere 20 000 Hektaren Ackerland.

Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Mein bäuerlicher Nachbar ist aus dem täglichen Irrsinn der Mengenbolzerei ausgestiegen und betreibt heute Kälbermast auf dem hofeigenen Weideland und fährt wirtschaftlich dabei nicht schlechter. Andere Landwirte produzieren Wiesenmilch auf Raufutterbasis unter dem Maienkäfer-Siegel von IP-Suisse, das eine tiergerechte und umweltschonende Produktion garantiert. Grossverteiler vertreiben Erzeugnisse aus naturnaher Produktion unter eigenem Label. Die 25 000 in der Agrarallianz vereinigten Bio- und IP-Landwirte produzieren innovativer und ökologischer. Und per saldo bleibt ihnen eigenen Aussagen zufolge, alles in allem gerechnet, mehr Einkommen als im Teufelskreis der Mengenbolzerei.

Diese innovative Agrarkonzeption wird vom Schweizerischen Bauernverband bekämpft. Er propagiert unter SVP-Einfluss eine ökofeindliche Politik der Überschussproduktion durch Tierhaltersubventionen und rechtfertigt solche Fehlanreize irreführend mit der «Ernährungssouveränität» – ein Ausdruck, der von der linken Landlosenbewegung in Südamerika stammt. Die SVP-Bauernpolitiker stehen offenbar unter dem Bann der «Anbauschlacht» im Zweiten Weltkrieg – vor mehr als einem halben Jahrhundert.

Der Bundesrat und der Nationalrat wollen die 50 000 Franken an Direktzahlungen, die ein Durchschnittsbetrieb Jahr für Jahr vom Bund erhält, stärker auf ökologische und extensive Produktionsmethoden ausrichten. Genau dies fordert im Übrigen die Bun-desverfassung: Artikel 104 will Direktzahlungen nämlich nur «unter der Voraussetzung eines ökologischen Leistungsnachweises». Unsere Verfassung hält fest: Die «Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen» und die «Pflege der Kulturlandschaft» sind subventionswürdig. Damit sind wir alle einverstanden. Für die Mengenbolzerei und Überproduktion hingegen wollen wir nicht auch noch Zuschüsse zahlen müssen.

 

 

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