Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 23. Oktober 2012
Bei kantonalen Finanzdirektoren und Steuerspezialisten ist Feuer im Dach. Kaum sind die enormen Folgekosten der Unternehmenssteuerreform II mehr schlecht als recht bewältigt, sind sie mit neuen Sachzwängen konfron- tiert, die eine Reform III mit neuen Steuersenkungen für Unternehmen nahelegen. Ein erneuter Steuer- schwund wäre die Konsequenz.
Auslöser der Debatte ist der wachsende Druck der EU auf die Schweiz. Seit 2005 fordert Brüssel, dass Holdinggesellschaften keine steuerliche Sonderbehandlung in unserem Land mehr erhalten dürfen. Holdinggesell- schaften sind Unternehmen, die über Beteiligungen andere Gesellschaften kontrollieren, zum Beispiel Tochter- firmen in aller Welt.
Der überbordende Steuerföderalis- mus hat dazu geführt, dass mehrere Kantone ausländischen Holding- gesellschaften ein Steuerschlupfloch anbieten: Die Erträge und Umsätze, die sie im Ausland erwirtschaften, sind steuerbefreit, nur ihre Erträge in der Schweiz werden wie solche einheimi- scher Unternehmen besteuert.
Diese Sonderbehandlung erlaubt es Konzernen, von der Schweiz aus im EU-Raum steuerfrei zu operieren. Ein Steuerschlupfloch, das eindeutig gegen internationale Steuerregeln verstösst, von der EU als wettbewerbsverfäl- schende Steuerpiraterie angesehen und nicht länger toleriert wird. Der Bund will dies korrigieren, doch bislang stand der Kantönligeist einer Lösung im Wege. Zur Lösung des Problems gibt es zwei EU-konforme Möglichkeiten: Entweder werden alle ausländischen Holding- gesellschaften in der Schweiz bezüglich Auslanderträge so besteuert wie die einheimischen Firmen. Das wäre das Nächstliegende, doch die Lobbyisten und Steuerschlupfloch-Mechaniker in den Anwaltskanzleien drohen mit Verlegung von Holdingsitzen ins Aus- land. Die Alternative ist, dass die Kan- tone ihre Firmensteuern auch für einheimische Gesellschaften so tief senken, bis keine Ungleichbehandlung mit den Holdings mehr besteht.
Der Kanton Genf will die zweite Lösung wählen. Kürzlich ist er mit der Ankündigung einer Halbierung aller Firmensteuern von circa 24 auf 12 Prozent vorgeprescht. Allein in den vier Zentrumskantonen Basel, Genf, Zürich und Waadt würde eine solche Lösung schätzungsweise zwei Milliarden Franken Steuerausfälle bringen. Diese reichen Kantone ihre bevorstehenden Steuerausfälle, entweder durch mehr Bundesgelder oder durch weniger Einzahlungen in den interkantonalen Finanzausgleich, was wiederum zu Ertragsausfällen bei den strukturschwachen und armen Kantonen führen würde. Am Schluss müsste der Mittelstand dafür zahlen.
Am Genfersee verfolgen die Kantone Waadt und Genf seit langem das Geschäftsmodell einer «Monaco- isierung» der Wirtschaft mit immer weniger produzierender Industrie und immer mehr Steuerprivilegien und Sonderregelungen für ausländische Superreiche, Oligarchen, Holding- gesellschaften und Briefkastenfirmen.
Das ist der Fluch der bösen Tat: Einmal gewährte Steuerschlupflöcher, Steuerabkommen und Steuerprivile- gien lassen sich fast nicht mehr rückgängig machen. Sie zwingen andere Kantone und Länder vielmehr zum Nachziehen. So erleben wir ein «Race to the bottom», einen Wettlauf nach unten, bei den Firmensteuern.
Nach meiner Einschätzung gäbe es eine einfache Lösung auf Bundesebene. Man überlässt es den Kantonen, ihre Unternehmenssteuern generell zu senken – auf eine Untergrenze von zum Beispiel 15 Prozent. Dafür hebt der Bund seinen Gewinnsteuersatz (von heute 8,5 Prozent) für alle Unterneh- men um 3 bis 5 Prozent an und verteilt den Mehrertrag an die Kantone direkt oder nach dem Schlüssel des Finanzaus- gleichs. Gleichzeitig verlangt der Bund, dass die Lizenzerträge aller Holdings besteuert werden, auch dies ein Sonderschlupfloch, das es in der EU nicht gibt. Kurz: eine Gleichbehandlung aller Firmen – dafür eine ertrags- neutrale Kompensation durch eine Steuerverschiebung zum Bund.
Gegen diese rationale Lösung in einer Unternehmenssteuerreform III spricht eine Altlast. Alle kennen sie und niemand spricht darüber: Sie besteht in einer Glaubwürdigkeitslücke. Hans-Rudolf Merz hat sie geschaffen. Vor der Volksabstimmung über die Unternehmenssteuerreform II im Februar 2008 erklärte er, damals noch Finanzminister, dem Volk, es gehe um eine geringe steuerliche Entlastung von kleinen Gewerblern, von Metzgern und sich auf nur 86 Millionen Franken beim Bund und 850 Millionen bei den Kantonen summieren. Doch diese Steuerreform mit der steuerbefreiten Kapitalrückzahlung bei Grosskonzer- nen bringt heute Milliardenausfälle. Insgesamt werden die kumulierten Steuerverluste in den nächsten zehn Jahren bis 30-mal höher sein als vom Bundesrat und von Economiesuisse beziffert. Selbst das Bundesgericht beanstandete im Nachhinein eine Täuschung der Stimmbürger.
Niemand habe seinerzeit gewusst, wie sich die Steuerreform auswirken würde, wird gern behauptet. Das ist falsch: Die kompetentesten Chefbeamten in der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) hatten Merz intern darauf aufmerksam gemacht, dass das neue Kapitaleinlageprinzip die Steuersyste- matik krass verletzt. Die Reaktion war, dass das Dossier dem stellvertretenden Direktor Samuel Tanner entzogen wurde, der als Chef der Hauptabteilung Direkte Bundessteuer dafür zuständig war, und an ESTV-Direktor Urs Ur- sprung übergeben wurde. Dieser ist inzwischen von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf entlassen worden. Interimistischer ESTV-Direktor ist Tanner. Und diesem habe ich das Ein- verständnis abgerungen, die damaligen Vorgänge publik machen zu dürfen.
Hans-Rudolf Merz hat das Parlament, die Kantone und die Stimmbürger in Kennntis der Vorbehalte seines Amtes in die Irre geführt. Trotz des Personenwechsels haben das Eidgenössische Finanz- departement und Economiesuisse, welche die Abstimmung als treibende Kräfte finanzierten, ein Glaubwürdig- keitsproblem: gegenüber den getäuschten Bürgern und Kantonen.
Für die Mittelschicht, welche die Hauptlast der Steuern trägt, ist eine weitere steuerliche Entlastung der Unternehmen ohne Kompensation völlig inakzeptabel. Denn von allen Steuererträgen der öffentlichen Hand (direkten, indirekten und Sonder- steuern von Bund, Kantonen und Gemeinden) zahlen die Unternehmen heute nur noch ein Viertel.
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