Kolumne Rudolf Strahm in Tages-Anzeiger, TA-Online und Bund vom 15.8.2017.
Bei ihrer langen Tagesarbeit verbringen die Spitalärzte im Durchschnitt nur gerade 90 Minuten am Bett des Patienten. Dies haben Analytiker, die den Arbeitsalltag von Spitalärzten im Kantonsspital Baden während Tagen von morgens bis abends auf Schritt und Tritt begleiteten, herausgefunden.
Die gleiche Untersuchung am Universitätsspital Lausanne kommt zu einem ähnlichen Erhebungsresultat: Assistenzärzte verbringen auch dort weniger als zwei Stunden beim Patienten, aber täglich fünf Stunden am Computer für das Reporting, also für den administrativen Dokumentations-, Erfassungs-, Auskunfts- und Belegaufwand. Auch das Pflegefachpersonal verbringt immer mehr Arbeitszeit am Computer für die Aufzeichnung jedes Arbeitsvorgangs.
Die Ärzteschaft ist ja nicht gerade scheu im Fordern und Jammern. Doch mit ihrer Kritik an dem von der Politik und den Krankenkassen aufgezwungenen Kontrollaufwand in der Spitalbürokratie hat sie recht. Das «Manifest gegen Spital-Bürokratie» der Zürcher Chefärzte ist ein Ausdruck für das Unbehagen.
Aus Deutschland importiertes Abrechnungssystem
Der Hauptgrund für die Verlagerung vom Kerngeschäft der Patientenbehandlung zur Administration liegt im Abrechnungssystem der Fallpauschalen. Dieses erfordert, dass das Spital jederzeit jede Diagnose und jedes Behandlungselement kontrollierbar, nachprüfbar und justiziabel dokumentiert.
Das Abrechnungssystem der Fallkostenpauschalen Swiss DRG (Diagnosis Related Groups) legt für sage und schreibe 4000 Indikationen der stationären Spitalbehandlung die Vergütungstarife der Krankenkassen fest. In jedem Kanton wird sie mit einer Basiskorrektur (Base Rate) kantonal und nach Spitaltyp angepasst. Die Verteidiger dieses aus Deutschland importierten und von einem deutschen Administrativarzt geleiteten Monsterprogramms behaupten, das System müsse noch weiter differenziert werden. In Deutschland ist es mittlerweile auf 8000 Diagnosefälle erweitert worden.
Mit dem von oben aufgezwungenen Abrechnungssystem wollten die marktgläubigen Urheber mit einer Art fiktiver Wettbewerbssimulation einen Kostendruck und mehr Effizienz in den Spitälern erzwingen. Politisch treibende Kraft war der damalige Vizepräsident und spätere Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK, der Basler Regierungsrat Carlo Conti. Er propagierte den Wettbewerbskampf unter den Spitälern und verschaffte sich bei den Marktgläubigen grosse Beachtung. Als Basler verpasste er demgegenüber keine Gelegenheit, die hohen
Medikamentenpreise der Pharmaindustrie zu verteidigen. Weil er als Regierungsrat seinen «schäbigen» Lohn von nur 317 000 Franken heimlich mit Mandaten aus der Pharmabranche aufbesserte, musste er, als es aufflog, zurücktreten.
Spitalbürokratie expandierte
Dieses von oben durchgedrückte Abrechnungs- und Controllingsystem mit DRG erfordert mehr Bürokratieaufwand: Nun braucht es in jedem Spital den neuen Beruf des Codierers, der die Leistungen einem der 4000 Diagnostikfälle zuteilt. In jedem grösseren Spital sind 10 bis 20 Codierer nötig. Bei den Krankenversicherungen braucht es ebenfalls Codierer zur Abrechnungskontrolle. Und in der Schiedsstelle braucht es für Rekursfälle wiederum Codierer, alles bezahlt vom Gesundheitssystem.
Die Spitalärzte will man nun mit neuen «medizinischen Dokumentationsassistenten» oder mit «klinischen Assistenten» (sog. Resident Assistants) entlasten. Zudem will man eine neue Zwischenhierarchie mit «Care-Koordinatoren» einschalten. Schweizweit sind das Tausende von Bürokratiepersonen, die nicht der Pflege dienen, aber das Gesundheitssystem verteuern.
Dagegen fehlt im Spitalwesen die Transparenz der Behandlungsqualität. Vergleichbare Daten zum Beispiel über Rehospitalisierungsquoten sind den Patienten nicht zugänglich.
Die Fallkostenpauschalen sind als Effizienz- und Kostendämpfungsmassnahme in den Spitälern angepriesen worden. Doch heute wissen wir, dass mit dieser Finanzkontrolle ein gigantischer
Ausweicheffekt stattgefunden hat: Die medizinischen Leistungen wurden weg vom Spital hin zur ambulanten Behandlung abgedrängt, zum Beispiel zu den privaten Belegärzten. Nun findet die Kostenexplosion im ambulanten Bereich statt.
Wirtschaftsprofessor Mathias Binswanger hatte früh schon vor dieser Kostenverschiebung gewarnt. Die Kantone waren aber erfreut, denn bei den ambulanten Behandlungen zahlen die Patienten respektive die Kassen alles. Bei den spitalstationären Leistungen jedoch müssen die Kantone 55 Prozent mitfinanzieren.
Die Privatspitäler mit ihrem Belegarztsystem (ein Privatarzt betreut im Spital die Patienten und rechnet selber ab) verstärken die Mengenausdehnung der medizinischen Leistungen. Im Kanton Bern mit seinen sieben (!) Privatspitälern in der Region Bern gibt es 30–40 Prozent mehr orthopädische Operationen als im Kanton Zürich. Und bei den Privatversicherten wird 30 Prozent häufiger operiert.
Diesen Vergleich enthüllte der bernische Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg an einer Tagung von Gesundheitsexperten. Das Belegarztsystem ist qualitativ gut, aber es fördert die Risikoselektion nach dem Prinzip: Diagnosen mit guten Risiken beim Privatspital, die unberechenbaren Risiken mit unvorhersehbaren Kosten (wie zum Beispiel Krebs) bei den öffentlichen Spitälern.
Gesundheitskosten wachsen weiter
Die Erfahrungen des Kantons Bern mit seiner (historisch entstandenen) hohen Zahl an Privatspitälern widerlegt all jene Privatisierungsdogmatiker wie Avenir Suisse, die den Wettbewerb unter
den Spitälern als Kostensenker anpreisen. Trotz allen Fallkostenstandardisierungen blieb die Tarifharmonisierung innerhalb der Schweiz aus. Wie der Preisüberwacher publiziert hat, betragen die
verrechneten Fallkosten zum Beispiel für eine identische Blinddarmoperation im preisgünstigsten Spital 4400 Franken und im teuersten 10 200 Franken. Da kann keiner sagen, dass die «Politik des regulierten Wettbewerbs» erfolgreich sei.
Das gesamte Gesundheitswesen ist ein Selbstbedienungsladen der Anbieter. Die Anbieter bestimmen auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Die Angebotsorientierung erfordert nicht weniger, sondern mehr intelligente Steuerung durch Staat und Krankenversicherer. Zudem braucht es einen viel einfacheren, pragmatischen Umgang mit Fallpauschalen.
Gewiss kann man massiv sparen, zum Beispiel bei Spitalmedikamenten, beim Wildwuchs der städtischen Spezialärzte, bei der extensiven, oft missbräuchlichen Nutzung der Notfallabteilungen. Doch ehrlicherweise müssen wir uns auf ein weiteres Wachstum der Gesundheitskosten von 3 bis 4Prozent pro Jahr einstellen. Kein aktiver Politiker wagt dies zu sagen. Aber mehr Kosten heisst auch bessere Gesundheit in der Bevölkerung. Die wichtigste Frage ist heute, wie die untersten Einkommensgruppen und die Kinder sinnvoll und gezielt entlastet werden können; alle andern sollen zahlen. Die Gesundheit ist halt das wertvollste Gut im Leben.