Kolumne zur Personenenfreizügigkeit im Tages-Anzeiger und im Bund vom 27.März 2012.
Rund 350 000 ausländische Personen sind in den letzten fünf Jahren seit Inkrafttreten der EU-Personenfreizügigkeit netto in die Schweiz eingewandert. Das entspricht etwa der Bevölkerung der fünf Städte Winterthur, St. Gallen, Luzern, Biel und Thun zusammen. In derselben Zeitspanne ist zudem die Zahl der Grenzgänger um ein Drittel angewachsen. Und seit der Osterweiterung der Personenfreizügigkeit im letzten Jahr ist die Zuwanderung aus osteuropäischen EU-Staaten (EU-8) ebenfalls hochgeschnellt.
Diesen Zuwanderungsboom beurteilen einige positiv und viele mit Beklemmung. Auch Bürgerinnen und Bürger ohne Überfremdungsängste fragen sich, wie es mit der ungebremsten demografischen Entwicklung weitergehen soll. Zumal die Wirtschaftskrise und Überschuldung in Süd- und Osteuropa einen zusätzlichen Auswanderungsdruck in Richtung Hochlohnländer schafft.
Die Zuwanderung aus den EU-Staaten versorge uns mit den nötigen hoch qualifizierten Kräften, die bei uns fehlten. Und sie beeinträchtige die Schweizer Bevölkerung und das Lohnniveau nicht: Diese Botschaft verbreitet das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft Seco unentwegt.
Diese Botschaft ist teilweise richtig, sagt aber nur die halbe Wahrheit. Sie trifft auf Deutschland und Nordeuropa zu. Doch sie verdrängt die statistische Tatsache, dass zum Beispiel 55 Prozent der Zuwanderer aus Portugal, dem Herkunftsland Nummer zwei, Tiefqualifizierte sind. Ungelernte Arbeitskräfte mit bildungsfernen Familien aus Portugals Norden.
Und auch die jüngst Zugewanderten aus den EU-Oststaaten stammen mehrheitlich aus bildungsfernen Schichten: 55 Prozent werden von der Landwirtschaft, dem Gastgewerbe und neu von der Hauswirtschaft zu Tieflöhnen rekrutiert. Bei den Kurzaufenthaltern sind es sogar 75 Prozent. Mit dem freien Familiennachzug werden sie nach einigen Jahren ihre fremdsprachigen Kinder in die Schweiz holen, den Schulen Zusatzbetreuung aufbürden, später das Sozialsystem beanspruchen.
Zu all diesen wichtigen Folgewirkungen herrscht Schweigen. Das Seco betont stets den Nutzen für die Wirtschaft. Ausgerechnet die Wirtschaftsvertreter der SVP-nahen Branchen – Landwirte, Hoteliers und Wirte – rufen nach weiterer Öffnung aus Osteuropa und bekämpfen die Ventilklausel zur vorübergehenden Beschränkung der Zuwanderung. Sie begehren nach wie vor Tiefstlohn-Arbeitskräfte, früher aus dem Balkan, jetzt aus dem Osten. Das ist eine teilweise Wiederholung des Einwanderungsmusters vor 2000. Niemand fragte damals nach den Folgelasten dieses Einwanderungsmodells für das Schulsystem, die Berufsbildung, das Sozialsystem. Und auch heute wird nicht danach gefragt.
Im Gastgewerbe waren im Februar 14 000 Personen arbeitslos, und die Arbeitslosenquote war mit 7,6 Prozent doppelt so hoch wie im schweizerischen Mittel. Innert zehn Jahren sind im Tourismus schätzungsweise 100 000 Beschäftigte, meist weniger qualifizierte Personen aus dem Balkan und Nordportugal, durch besser ausgebildete, sprachlich gewandtere Personen aus Deutschland und andern West-EU-Ländern ersetzt worden. Und wo sind die aus dem Arbeitsmarkt Verdrängten heute? Diese sind nicht zurückgewandert, sondern teilweise ins Sozialsystem abgedrängt worden.
Eine glaubwürdige Migrationspolitik setzt einen ehrlichen, vollständigen Überblick voraus. Das Seco hat uns bisher mit selektiven, politisch gefärbten Informationen versorgt. Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK-N) hat nach Untersuchung des Lohndrucks durch die Personenfreizügigkeit in ihrem Bericht vom Oktober 2011 kritisiert: «Die Feststellungen des Bundesrats und des Seco müssen infrage gestellt werden.» Und: «Die GPK-N zeigt sich beunruhigt über diese Inaktivität in einem politisch und wirtschaftlich derart sensiblen Bereich.» Die Glaubwürdigkeit des Seco ist auf dem Nullpunkt. Es braucht ein unabhängiges Reporting, ein Missbrauchs-Monitoring und vor allem eine Langfristfolgen- Abschätzung der Immigration.
Nun steht der Entscheid des Bundesrats über die Anwendung der Ventilklausel gegenüber den EU-Oststaaten bevor. Die Ventilklausel besagt: Wenn die Zuwanderung mehr als zehn Prozent des letzten Dreijahres-Durchschnitts ausmacht, kann die Schweiz laut Verträgen die Rekrutierung von Erwerbstätigen aus einer EU-Ländergruppe vorübergehend beschränken.
Diese «Einwanderungsbremse» hatte der Bundesrat als Beruhigungsargument vor den Abstimmungen über die Personenfreizügigkeit immer wieder versprochen. Nun sind letztes Jahr aus Osteuropa (EU-8) insgesamt rund 22 000 Erwerbstätige rekrutiert worden. Dies führte zu 20 Prozent mehr Wohnbevölkerung aus der EU-8. Wenn der Bundesrat seine früheren Versprechen mit der Ventilklausel jetzt nicht einhält, wird man ihm später weitere Zusicherungen kaum mehr glauben.
Die EU verlangt, dass die Schweiz die Kautionspflicht für jene ausländischen Handwerksfirmen aufhebt, die bei uns Bauarbeiten zu Billiglöhnen durchführen und das einheimische Gewerbe schädigen. Sie verlangt ultimativ die «fortlaufende Anpassung bestehender Abkommen» und durch «institutionelle Reformen» die Übernahme von EU-Gerichtsurteilen. Dies würde die schrittweise Akzeptierung der Unionsbürgerschaft erfordern, das heisst einen vollen Zugang aller EU-Bürger zum Sozialsystem, auch durch Nichterwerbstätige.
Der EU-Gerichtshof hat mit wegleitenden Urteilen das bisherige Lohnschutzprinzip «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort» ausgehebelt. Das heisst: Die EU könnte ihre Lohndrückerstrategien per EU-Gerichtsentscheide auch im Hochlohnland Schweiz durchsetzen.
Deshalb braucht es im Zuge der zukünftigen bilateralen Verhandlungen mit der EU auch eine Nachverhandlung der Abkommen über die Personenfreizügigkeit zum zukünftigen Schutz vor Übergriffen durch EU-Richter. Hingegen muss die Schweiz bei Steuerfragen nachgeben, weil Steuerflucht und Holdingprivilegien die EU-Länder direkt schädigen. Die Regulierung der Zuwanderung hingegen tut es nicht.
Unser Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hat «Ordnung im Stall» bezüglich Arbeitsmarkt-Zuwanderung gefordert. Wenn er das ernst meint, gehören neben den flankierenden Lohnschutzmassnahmen auch die Anwendung der Ventilklausel und eine Nachverhandlung der Personenfreizügigkeit dazu. Man sollte angesichts der vorhandenen Ängste und Beklemmungen in der Bevölkerung damit nicht wieder so lange zu warten, bis die nationalistische Rechte mit ihren grobschlächtigen Volksinitiativen Ordnung im Stall schafft.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.