Sind Kampfflugzeuge ein effizienter Bevölkerungsschutz?

Kolumne vom Tages-Anzeiger/Bund vom 14.07.2020

Kampfflugzeuge schützen nicht vor Viren

von Rudolf Strahm

Es ist nieslige Novembernacht in Mailand. Ein Elektrotechniker fährt mit seinem Auto nach Hause. Erst während der Fahrt stellt er fest, dass die Strassen nicht beleuchtet sind. Plötzlich kracht es. Er hatte eine Kreuzung übersehen, weil die Verkehrsampeln nicht funktionieren. Er spürt eine blutende Kopfwunde, sonst ist er unversehrt.

Die Verkehrspolizei ist mit dem Handy nicht erreichbar. Auch nicht die Ambulanz für die Verletzten. Die Leitungen sind tot. Schliesslich lässt der Techniker sein Autowrack stehen und geht zu Fuss zu seinem Appartement. In seinem Wohnblock gibt es keinen Strom, alles finster, alle Geräte ausser Betrieb. Mit einer Taschenlampe sucht er den Elektrizitätsverteiler im Keller. Als Elektriker und Elektroniker kennt er sich aus.

Bald stellt er fest, dass gewisse Schaltelemente irregulär funktionieren. Man nennt sie „intelligente Stromzähler“, weil über sie die Elektrizitäts-Feinverteilung aufgrund der europäischen Verfügbarkeit „intelligent“ optimiert wird. Jedesmal wenn der Techniker die Module einschaltet, fallen sie nach Sekunden reihenweise wieder aus. Das muss eine extern organisierte Virus-Attacke oder ein installierter Schad-Code sein, vermutet der Techniker.

Etwa zur gleichen Stunde stellt die System-Operateurin in der Schaltzentrale Tena bei Rom fest, dass der Strom in ganz Norditalien einfach weg ist, automatisch abgeschaltet, einfach so, ohne Vorwarnung. Eine Stunde später konstatieren die Operateure in der europäischen Schaltzentrale Brauweiler in Deutschland, dass bereits ganz Schweden, Norwegen, Finnland, die Südschweiz, noch etwas später ganz Slowenien, Dänemark, Teile Frankreichs und der ganze Balkan ohne Strom sind. In allen Zentralen versucht man verzweifelt ein Abtrennen und Hochfahren von Teilnetzen. Regelmässig schalten die redundanten Systeme wieder aus.

In den nächsten Tagen bleiben in ganz Europa nicht nur die Verkehrsampeln ausser Betrieb. Es versagen auch die Benzinpumpen an den Tankstellen, vor denen sich lange Autoschlangen stauen. Die Telekommunikation ist mit Ausnahme gewisser Polizei- und Armee-Funkverbindungen europaweit tot. Die Netzregel-Server in Atomkraftwerken funktionieren nicht. Die Umwälzpumpen in allen Gebäudeheizungen stehen in diesen kalten Novembertagen still. Die gesamte Wasserversorgung in den Städten ist ausser Betrieb. Die Landwirte sind zum Handmelken gezwungen, weil ihre Kühe schon nach wenigen Stunden leiden. Die Kühlsysteme in den Gefrierlagern der Grossverteiler stehen still und tausende Tonnen Gefrierfleisch verderben. Darauf gibt es Hamsterkäufe und Kaufhausplünderungen in manchen Städten. Mit Ausnahme von etlichen Spitälern und von Notstrom-Blockkraftwerken in Nobelquartieren ist Europa lahmgelegt. Der zweiwöchige Total-Lockdown kostet Europa tausende von Milliarden und eine Million Tote.

Soweit die Science-Fiction im Roman von Marc Elsberg mit dem Titel „BLACKOUT. Morgen ist es zu spät“. Das 800-seitige Buch wurde über eine Million mal verkauft.  Der Roman endet damit, dass nach langen Irrwegen von Cyber-Defence-Spezialisten bei Interpol und Nato eine kriminelle Hacker-Organisation in Istanbul und Mexiko ausfindig gemacht und ausgeschaltet werden kann.

Was allerdings der realistische Wahrheitsgehalt an dieser wissenschaftlichen Fiktion ist: Es ist nicht etwa die Stromverknappung, die den europaweiten Blackout für 500 Millionen Menschen verursacht, wie sie von unentwegten Atomkraft-Befürwortern an die Wand gemalt wird. Es ist vielmehr die Komplexität und Vulnerabilität der digitalen Systeme. Sie bieten unzählige offene Portale für kriminelles, terroristisches und selbstverständlich auch kriegerisches Eindringen in die informatikgesteuerten Router, Server, „intelligenten“ Zähler und Grid-Netzsteuerungen. „Alle Systemkomponenten sind getestet und sicher“, sagen die Techniker. Schuldig für eine Katastrophe ist nicht „jemand“, sondern die lückenhafte Beherrschbarkeit und Komplexität im System.

Verlassen wir die Fiktion und fragen nach der helvetischen Realität. Sind wir für solche Katastrophen gerüstet? Der Amtsschimmel wird das bejahen. Das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS hatte 2015 einen Risikobericht zu Katastrophen und Notlagen der Schweiz und zahlreiche Zusatzstudien, Methodikpapiere, Gefahrenanalysen, Spezialberichte mit Vorsorgeplanung und Resilienzforschung vorgelegt. Kommissionen, Experten-Workshops, Task Forces hatten an diesen Schreibtischprodukten gearbeitet. Genau wie bei der Pandemie-Vorsorge sind für jedes beschriebene Katastrophenszenario viele Akteure ein bisschen zuständig: Mehrere Departement und Bundesämter, Kantone und Verbände, Armee, Zivilschutz, Beratergremien und neu ein Delegierter des Bundes für Cybersicherheit, der seinerseits wiederum auf eine verwirrende Kaskade von Cyber-Defense-Stellen zurückgreift.

Nach der Durchsicht dieser Evaluation von 33 denkbaren nationalen Katastrophen bleibt der gleiche Eindruck, den uns die Corona-Pandemie hinterlassen hat: Man hat zwar an alles gedacht, alle Eventualitäten theoretisch einkalkuliert. Nur eines hatte man nicht: die nötigen Mittel bereitgestellt für die Vorsorgehaltung, also für Masken, Testreagenzien, Spitalinstallationen.

Bereits die Risikoanalyse von 2015 hat einen Stromzusammenbruch mit 100 bis150 Milliarden Franken Schadenssumme als teuerste nationale Katastrophe für die Schweiz benannt. Sie hat zudem eine zerstörerische globale Cyberattacke als die plausibelste Gefährdung der Schweiz beschrieben.

Längst sollte die neue Risikoanalyse 2020 des Bundes vorgestellt werden. Zahlreiche  Arbeitsgruppen und Experten haben daran gearbeitet. Leute mit Insiderkenntnissen sagen, der Bund wolle mit der Veröffentlichung der neuen Gefährdungsanalyse bis nach der Abstimmung über die Kampfflugzeug-Beschaffung vom 27. September 2020 zuwarten. Warum das? Weil mit diesem Risikobericht 2020 allen bewusst werden wird, dass neuen Kampfflugzeugen beim zukünftigen Bevölkerungsschutz überhaupt keine Priorität zukommt!

Die Abstimmungsvorlage sieht 6 Milliarden Franken für die Anschaffung von 23 bis 30 Kampffliegern vor. Aber die so genannten Systemkosten für Anschaffung, Betrieb, Wartung und Reparatur während der ganzen Nutzungsdauer werden vom Bundesamt für Rüstung Armasuisse auf insgesamt 18 Milliarden beziffert.

Als ehemaliger Flab-Offizier fühle ich mich nicht kompetent zu einer Kosten-Nutzen-Analyse für Kampfflugzeuge, genau so wenig wie die meisten Armeeoffiziere und die Parlamentarier dazu in der Lage sind. Aber Experten sagen, dass mit einem System von mobilen Boden-Luft-Raketen, kombiniert mit Drohnen, der militärische Bevölkerungsschutz fünf Mal effizienter, respektive günstiger wäre. In Kreisen von Fliegerabwehr-Offizieren ist klar: in einem Ernstfall-Szenario wären Kampfflugzeuge nach drei Tagen ohnehin ausgeschaltet.

Was sicher ist: die Milliarden, die für Kampfflugzeuge investiert werden, fehlen dann beim anderweitigen Bevölkerungsschutz, bei den Investitionen in die Vorsorge. Es bräuchte nämlich jetzt Milliarden-Investitionen in unabhängigere Energiesysteme, für mehr Cybersicherheit und für unabhängige Telekom-Netze. Doch man überlässt solche Vorsorge dem Goodwill der freien Marktwirtschaft.

Wird hier mit Kampffliegern nicht ein System beschafft, das einem veralteten Bedrohungsszenarium anhängt? Dies, weil eine Handvoll unverwüstlicher Rüstungshardliner in den sicherheitspolitischen Kommissionen des Parlaments ihre militärpolitische Definitionsmacht durchsetzen? Und weil alle Andern in geistiger Achtungsstellung vor der nicht hinterfragten Armeedoktrin einfach mitlaufen?

Mit Kampfflugzeugen kann man, so weit ist es allen bewusst, kriegerische und terroristische Viren-Angriffe nicht bekämpfen. Sie sind längst untauglich gegen pandemische Viren und biologische Kriegführung, noch helfen sie gegen zerstörerische Schad-Code-Viren in den Informatik- und Cybersystemen, von denen die Bevölkerung zu schützen wäre.

Dies ist eine Langfassung der Kolumne von Rudolf Strahm in den Zeitungen von TA-Media vom 14. Juli 2020.

https://www.tagesanzeiger.ch/kampfflugzeuge-schuetzen-nicht-vor-viren-323126745903