Interview mit Rudolf Strahm in Bund und Berner Zeitung 30. März 2022
Rudolf Strahm zum Finanzplatz«Das ist eine beschämende Gammelpraxis»
Die russische Regierung hat entschieden, dass die Gas- und Ölexporte mit Rubel bezahlt werden müssen. Kann das die Rezession abbremsen?
Ich bin nicht sicher, ob dies den Rubel auf Dauer stützt. Schliesslich muss Russland die Importe und die Zinsen für seine Schulden im Ausland nach wie vor mit Devisen bezahlen.
Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck befürchtet eine Rezession durch einen Gas- und Ölimportstopp. Zu Recht?
Wie es um die deutschen Energiereserven steht, weiss man nicht. Aber es ist klar, dass man ein Energiesystem nicht innerhalb von Wochen umbauen kann. Wenn Deutschland die Gaszufuhr abrupt stoppt, muss es vielleicht sogar das Embargo rückgängig machen, um die eigene Wirtschaft am Leben zu erhalten. Das wäre ein grosser Sieg für Putin.
«Unsere Klimapolitik würde politisch schlagartig kippen, sollte es einmal zu einem Stromausfall kommen.»
Ist es denn besser, Gas aus Katar zu importieren?
Ja, sicher, auch von dort. Ich finde es richtig, dass Bundesrat Ueli Maurer in Katar war. Das Emirat ist kein demokratischer Staat. Aber es hat die zweitgrössten Erdgasreserven der Welt und sucht die Balance zwischen sunnitischer und schiitischer Welt. Zumindest wäre für eine Übergangszeit von 10 bis 20 Jahren Flüssiggas aus Katar und anderen Ländern eine Möglichkeit, um der Energieknappheit in der Schweiz zu begegnen.
Also lieber mit dem kleinen Teufel geschäften als mit dem grossen?
Die Energiewende braucht Überbrückungslösungen. Die Klimapolitik der Schweiz und Europas würde politisch schlagartig kippen, sollte es einmal zu einem Stromausfall von nur einem Tag kommen. Von daher ist es verständlich, dass Europa vorsichtiger vorgehen muss als die USA, die selbst über genug Energiereserven verfügen.
Salopp formuliert: Der Krieg fördert den Umstieg auf erneuerbare Energien nur dann, wenn nicht der Strom ausfällt?
Intuitiv geantwortet: ja. Dabei geht es aber weniger um einen Stromausfall wegen Energieknappheit. So was ist ja in der Regel voraussehbar. Für viel gefährlicher und wahrscheinlicher halte ich die Möglichkeit eines Strom-Blackouts wegen eines Cyberangriffs aufs Elektrizitätssystem. Gemäss einem Bericht des Bundesamts für Energie ist das Schweizer Stromnetz sehr schlecht gegen Cyberattacken geschützt. Auch das europäische Stromsystem wird anfälliger, je vernetzter und komplexer es ist. Einige Tage ohne Strom könnten die Einstellung grosser Teile der Bevölkerung gegenüber der Energiewende und zur Atomkraft verändern.
Aber AKW wären ja auch Cyberattacken ausgesetzt?
Natürlich. Aber weil man von russischen Energielieferungen unabhängig werden will, wird die AKW-Debatte weltweit eine Renaissance erleben. In der Schweiz ist sie derzeit bloss Parteiengeplänkel. Nur grosse Länder können neue, sicherere Reaktortypen entwickeln. Die Übernahme solcher Reaktoren ist für die Schweiz in den nächsten 10, 20 Jahren ziemlich unrealistisch.
Was wäre das Best-Case-Szenario in Bezug auf den Importstopp von Gas und Öl aus Russland?
Eine Diversifikation der Energieversorgung. Wenn neben Katar auch Venezuela und Norwegen Gas liefern, könnte ein Importstopp innerhalb eines Jahres möglich sein. Dabei geht es aber um gekühltes Flüssiggas, das mit Schiffen geliefert wird. Ob es genug Schiffskapazitäten gibt, um Europa rasch mit Gas zu versorgen, kann ich nicht beurteilen.
US-Präsident Joe Biden hat eine Taskforce zur Jagd auf Oligarchenvermögen gegründet. Die Schweiz hat eine Meldepflicht. Werden wir bald mehr tun müssen?
Die Oligarchenvermögen sind ja weniger in der EU, sondern in Grossbritannien, in der Schweiz und in Offshore-Paradiesen. Der Druck auf die Schweiz dürfte daher stark steigen. Es ist gut, dass die hier verwalteten russischen Vermögen fürs Erste blockiert werden. Die bisher sechs Milliarden Franken, die arretiert wurden, sind aber Ausdruck einer beschämenden Gammelpraxis. Das gibt den Oligarchen Zeit zum Ausweichen. Die Frage ist nun, wie die auf 180 Milliarden Franken geschätzten Vermögen in der Schweiz für den Wiederaufbau in der Ukraine nutzbar gemacht werden können. Auf die Arretierung der Vermögen muss eine zweite Phase folgen, die Teilbeschlagnahmung. Die Oligarchenvermögen sind ja nicht selbst erwirtschaftet. Es handelt sich um einstiges russisches Volksvermögen, das in den Neunzigerjahren geklaut, beschlagnahmt und enteignet worden ist.
«Die Willkommenskultur für Oligarchen sollte von einer parlamentarischen Untersuchungskommission untersucht werden.»
Sind Enteignungen rechtlich überhaupt möglich?
Das müsste im Rahmen des internationalen Kriegsrechts geschehen. Falls die USA vorangehen, gibt es für die Schweiz kein Ausweichen. Das sah man zuletzt vor zwölf Jahren, als unser Land wegen des Bankgeheimnisses von den USA unter Druck gesetzt wurde.
Die Schweiz reagiert nur auf äusseren Druck – wie seit je?
Die Schweiz hatte nie die Kraft, ihren Finanzplatz selbst in Ordnung zu bringen. Es passiert erst dann etwas, wenn der Druck von aussen steigt. Die jüngsten Sanktionen der EU gegen Russland wurden ja nicht bloss aus moralischen Gründen übernommen. Es ist bekannt, dass US-Behörden zuvor mehrfach in Bern interveniert haben.
Was schlagen Sie in Sachen Oligarchenvermögen vor?
Die Oligarchenvermögen in der Schweiz sind eine Folge der strukturellen Lockvogelpolitik, mit denen sie angelockt wurden. Die Willkommenskultur mit Steuervergünstigungen und Pauschalsteuern sind ein langjähriges wucherndes Übel und sollten von einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) untersucht werden, um Dynamik in die Sache zu bringen. Dem Bundesrat fehlt die Kraft dazu.
Die Pauschalbesteuerung ist eine Blackbox: Die Finanzdirektorenkonferenz gibt nicht einmal mehr die Anzahl der Pauschalbesteuerten bekannt.
Das zeigt exakt das strukturelle Problem: Die Steuerschlupfkantone wie Zug, Genf, Waadt sowie Nid- und Obwalden sind im Parlament ziemlich mächtig. Es bräuchte minimale nationale Regeln gegen den schädlichen Steuerwettbewerb. Sonst zügeln Milliardäre einfach von Zürich nach Zug, wie dies Viktor Vekselberg vorgemacht hat, nachdem in Zürich die Pauschalbesteuerung abgeschafft wurde.
Wird die Mindestbesteuerung von Holding-Gesellschaften etwas ändern?
Die Schweiz macht da contre-cœur mit, weil sonst die schweizerischen Konzerntöchter in anderen Ländern höher besteuert werden könnten. Die Oligarchenvermögen sind davon aber nicht betroffen.
«Ich konstatiere mit einigen Schmerzen die Entwicklung der Sozialdemokratie.»
Themen wie die Armee oder die Ernährungssicherheit sind plötzlich aktuell. Die SP wurde davon auf dem falschen Fuss erwischt.
Die Parlamentsdebatte über den Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass alle Parteien von den Ereignissen überrumpelt worden sind. Sie servieren bloss ihre alten Konzepte. Aber ja: Die Armeekritiker sind in der Defensive.
Der Krieg dürfte die Sitzverluste der SP in kantonalen Wahlen jedenfalls nicht abbremsen.
Ich war sieben Jahre SP-Zentralsekretär, 13 Jahre im Parlament und 25 Jahre im SP-Vorstand: Ich konstatiere mit einigen Schmerzen die Entwicklung der Sozialdemokratie – nicht nur in der Schweiz, sondern in Europa.
Warum?
Es gibt Trends in der gesellschaftlichen Entwicklung und bei der Veränderung der Arbeitswelt, die da eine Rolle spielen. Aber auch selbst verschuldete Verhaltensprobleme. Das sind aber komplexe Zusammenhänge, deren Erklärung den Rahmen dieses Interviews sprengen würden.
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Bernhard Ott ist Redaktor im Ressort Bern. Er ist Germanist und Historiker, schreibt über Politik und Gesellschaft und führt Samstagsinterviews durch.
Publiziert: 30.03.2022, 10:15