Schnurstracks in die finanzielle Osteoporose

Kolume im Tages-Anzeiger/Bund vom 02.08.2016

Jeder Finanzvorgang, jede Steuersenkung, hat zwei Seiten – eine Aktiv- und eine Passivseite. Wir Stimmbürger sollten zur dritten Unternehmenssteuerreform (UStR-3) beide Seiten kennen, denn im Februar 2017 werden wir über diese komplexe Materie abstimmen. Es wird eine einseitige Schlacht zwischen direkt interessierten Steuer­experten und Konzernvertretern geben.

Die zwei folgenden Rundschreiben zeigen die polarisierende Komplexität. Das erste stammt vom Steuerberater an seine vornehmlich ausländischen Firmenkunden, das zweite von einem Finanzvorstand des öffentlichen Gemeinwesens. Rundschreiben 1: Aktivseite

«Wir informieren Sie hier frühzeitig über die Möglichkeiten der Steueroptimierung, die Ihnen mit der vom Bundesparlament beschlossenen Unternehmenssteuerreform 3 neu zur Verfügung stehen. Gleichzeitig möchten wir uns als Steuerberatungsfirma empfehlen, Ihr Unternehmen bei der steuerlich optimalen Bilanzgestaltung und der maximalen Ausschöpfung der Steuervermeidungsmöglichkeiten zu unterstützen. Wir präsentieren Ihnen fünf Steuersenkungsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen.

Erstens: Mit der neu eingeführten zinsbezogenen Gewinnsteuer (NID) können Sie einen fiktiven Zinsabzug auf dem steuerbaren Gewinn vornehmen, wenn Sie Eigenmittel von Ihren ausländischen Gesellschaften zu Ihrem Schweizer Sitz transferieren und hierzulande parkieren. Dieser neuartige Zinsabzug auf dem firmeneigenen Eigenkapital (Sicherheitskapital) ist rechnerisch neu möglich, obschon dieser Zinsaufwand Sie nichts kostet! Für dieses Kapital können Sie einen fiktiven Zins von 2 bis 5 Prozent, je nach Herkunftsland, von Ihrem Firmengewinn abziehen und somit den steuerbaren Gewinn kalkulatorisch nach unten korrigieren. Dieses System hat eine für Sie besonders attraktive Dynamik: Sie können jedes Jahr mehr überschüssiges Eigenkapital in ihre schweizerische Firmenniederlassung transferieren und somit Jahr für Jahr mehr fiktive Zinsen abziehen und damit den steuerbaren Gewinn laufend reduzieren.

Die schweizerische Regierung wollte diese dynamische Steuersenkungsmöglichkeit nicht. Doch sie wurde dank der effizienten Beratung durch Steuerspezialisten der renommierten Zürcher Anwaltskanzlei Homburger Lawyers (Zurich Prime Tower) entwickelt und über nahestehende Ständeräte in die UStR-3 eingebracht. Dank der neuen Mehrheitsverhältnisse im Parlament konnte sie gegen den Willen des Bundesrats im Gesetz verankert werden.

Zweitens: Sie können Ihre Gewinne aus Ihren ausländischen Konzerntöchtern und Verkaufsfilialen als Patententschädigungen (Lizenzerträge) für die gelieferten Substanzen und Produkte deklarieren. Diese lassen Sie in eine spezielle Auffang­gesellschaft Ihrer Firma – der sogenannten Patentbox – einzahlen. Dieser Gewinn ist bis zu 90 Prozent steuerfrei! Eine solche Steuersenkung um bis zu neun Zehnteln ist zum Beispiel für Pharma­konzerne in Basel praktikabel.

Drittens: Sie können neu Ihre in der Schweiz erbrachten Forschungsaufwendungen zu 150 Prozent vom Gewinn abziehen. Mit anderen Worten: Durch diese Abzugsmöglichkeit subventioniert der schweizerische Staat Ihre Forschung zu 50 Prozent über Ihre firmeneigenen Aufwendungen hinaus.

Viertens: Wenn Sie Unternehmensteile in die Schweiz verlagern, müssen Sie die zuvor angehäuften stillen Reserven des Konzerns – zum Beispiel unterbewertete Immobilien – nicht von Anfang an versteuern, sondern Sie können mit der sogenannten Step-up-Regel die Besteuerung beim Bund bis zu 10 Jahren hinauszögern.

Fünftens: Dank der vorangegangenen UStR-2 von Bundesrat Hans-Rudolf Merz können Sie bei den Bundessteuern auch weiterhin alle früheren Kapitalbeteiligungen (also Einzahlungen von Aktionären) als Kapitalrückzahlungen (sogenanntes Agio-Kapital) deklarieren und somit steuerfrei an die Aktionäre ausschütten. Diese Steuerersparnis ist beachtlich: Im Jahr 2015 betrug schweizweit die steuerbefreite Ausschüttung von Kapital rund 110 Milliarden Franken.

Sie sehen aus dieser vielfältigen legalen Steuervermeidungsstrategie, wie wichtig die Steuerberatung durch eine Anwalts- oder Steuerkanzlei in Zukunft sein wird, zumal die Varianten durch die einzelnen Kantone festgelegt werden. Zwar müssen in Zukunft die Domizilgesellschaften ihre Inland- und Auslandsumsätze gleich hoch versteuern, aber für die internationalen Firmen wird die steuerliche Gesamtbelastung in der Schweiz, die schon heute zu den weltweit tiefsten gehört, von durchschnittlich 22 auf 14 bis 16 Prozent oder noch tiefer abgesenkt.»

Rundschreiben 2: Passivseite

«Als Finanzvorstand möchte ich die Behörden und Gemeinden frühzeitig über die finanziellen Folgen der Unternehmenssteuerreform 3 ins Bild setzen, die unsere öffentlichen Budgets zusätzlich zur bereits heute angespannten Finanzlage ab 2018/19 und in den Folgejahren verschlechtern wird. Gemäss den offiziellen Beschlüssen des Parlaments rechnet der Bund allein für sein Budget mit 1,3 Milliarden Franken Steuerausfällen pro Jahr. Allerdings basiert dies auf einer statischen Berechnung aufgrund der früheren Steuerjahre. Die voraussehbare Steuersenkung durch den Ausbau der zinsbereinigten Gewinnbesteuerung wird diesen Steuerertragsverlust laufend erhöhen. Zusätzlich zum Bund werden für die Kantone, Städte und Gemeinden mindestens 1,4 Milliarden Franken Steuerausfälle erwartet. Der Kanton Zürich hat bekannt gegeben, dass er mit seinem Vollzugsmodell mit einer halben Milliarde Ausfälle pro Jahr rechnet. Andere Kantone sind noch nicht so weit. Die Stadt Bern rechnet mit 35 Millionen Franken Steuerausfall.

Der Bund wird die Kantone – nicht aber die Städte und Gemeinden! – teilweise entschädigen, indem er ihnen neu 21,2 statt wie bisher 17 Prozent seiner Einnahmen aus der direkten Bundessteuer oder 900 Millionen Franken jährlich überlässt. Die direkte Bundessteuer wird wegen der starken Progression vor allem vom Mittelstand finanziert.

Der Steuerwettbewerb unter den Kantonen wird durch diese Reform massiv zunehmen. Denn die finanzstarken Kantone werden mit ihrem erweiterten Spielraum der UStR-3 weitere Steuersenkungsprogramme für ausländische Firmen anbieten können, während finanzschwache Kantone ihre Bürger und einheimische KMU tendenziell stärker besteuern müssen. Ein weiterer kommunaler und kantonaler Leistungsabbau bei Schulen, im Verkehr, im Sozialen und bei den Investitionen ist ab 2018/19 programmiert.»

Nachbemerkung des Autors

Diese beiden Rundschreiben sind fiktiv, aber realitätsbezogen. Sie wurden vom Autor verfasst aufgrund der definitiven Beschlüsse des eidgenössischen Parlaments, in dessen Wirtschaftskommission (WAK-N) er 13 Jahre mitgewirkt hatte. Sie sollten die Stimmbürger und die Finanzverantwortlichen in den Städten und Gemeinden vorausschauend auf die organisierte finanzielle Osteoporose in unserem Staatswesen aufmerksam machen.

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