Prüft den Inländervorrang

Kolumne in Tages-Anzeiger und Bund vom 8. März 2016.

 

Der Bundesrat hat sich nach der Annahme der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung für seinen Gesetzesvorschlag zur Personenfreizügig­keit mehr als zwei Jahre Zeit genommen. Jetzt wird auf Zeit gespielt. Der Zeitpunkt ist passend, nochmals den anvisierten Mechanismus der Rekrutierung von Arbeitskräften im EU-Raum zu überdenken.

Die vorgeschlagene Schutzklausel gegen unbegrenzte Zuwanderung ist nur die zweitbeste Lösung. Wenn sie zum Tragen kommt, läuft sie auf eine Kontingentierung hinaus. Ich habe Kontingente immer als unpraktikabel beurteilt: Welcher Branche sollen damit die Arbeitskräfte zugeteilt werden? Was macht die Regierung, wenn im September das vorgesehene Jahreskon­tingent schon ausgeschöpft ist?

Ich halte nach jahrzehntelanger Erfahrung mit Beschäftigungs- und Bildungspolitik eine Steuerung der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt für unverzichtbar. Die Personenfreizügigkeit der EU ist in der heutigen Form ein neoliberales System, dessen Marktdogma lautet: Freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und des «Produktionsfaktors» Arbeit.

Es ist eine Tragik der Geschichte, dass die Linke, die sonst keine Gelegenheit auslässt, mehr staatliche Intervention zu fordern, wegen ihrer Europapolitik den Staat ausgerechnet in der sozial existenziellen Frage der Zuwanderung völlig heraushalten und die Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften allein den Arbeitgebern und dem freien Markt überlassen will. Eine politische Tragik deshalb, weil sich ein grosser Teil der betroffenen Arbeitnehmer von ihr nicht mehr vertreten fühlt.

Philipp Müller bricht Tabu

Ich war immer für das pragmatischere und prakti­kable Steuerungsprinzip des Inländervorrangs. Von den dogmatischen Europarechtstheoretikern wird es ebenso verunglimpft wie jede Kontingentslösung; und deshalb wurde das Prinzip verdrängt. Nun hat der bald abtretende FDP-Präsident Philipp Müller den Schleier des Verdrängens beiseitegeschoben und einen Inländervorrang anstelle einer Schutzklausel mit Kontingenten vorgeschlagen. Manchmal braucht es solche Tabubrüche, um in der Politik weiterzukommen.

Es gibt beinahe zwingende Gründe für einen Inländervorrang: Im Januar dieses Jahres zählte das Seco rund 160 000 registrierte Arbeitslose und 220 000 Stellensuchende. Allein 22 000 registrierte Arbeitslose gab es im Baugewerbe, 17 800 im Detailhandel, 17 800 im Gastgewerbe – also in jenen Branchen, die auch letztes Jahr Tausende aus dem EU-Raum neu rekrutiert hatten. Es gibt auch 3300 arbeitslose Informati­ker und 8200 arbeitslose, meist ältere Direktoren und leitende Kader in der Kategorie der Fachkräfte.

Gewiss sind diese Arbeitslosen nicht alle gleichermassen stellentauglich. Aber die Personenfreizügigkeit hat klar einen Verdrän­gungseffekt im Inland, weil es für Firmen einfacher und billiger ist, Personal im Ausland zu rekrutieren. Die steigende Sockelarbeitslosigkeit ist ein Beweis dafür.

Wie der Inländervorrang abläuft

Der Inländervorrang ist die intelligenteste und flexibelste Art, die Personalrekrutierung zu steuern. Der Mechanismus ist bekannt und läuft so ab: Die Arbeitgeber, die Personal suchen, müssen die Stelle zuerst auf dem inländischen Arbeitsmarkt ausschreiben. Sie müssen eventuell ihre Stellenangebote vorgängig auch den lokalen Arbeitsvermittlungszentren RAV zustellen, und diese können die Ausschreibung mit ihrem Regis­ter der gemeldeten Arbeitslosen und Stellensuchenden abgleichen und diese zur Bewerbung anhalten. (Belgien praktiziert diese Stellenmel­dung übrigens auch.) Der Arbeitgeber muss vor der Anstellung eines Stellenbewerbers aus dem Ausland dem kantonalen Arbeitsamt belegen, dass er vorher Personal in der Schweiz gesucht hat und dass kein Inländer auf das Stellenprofil passt. Aber im Übrigen ist er bei der Anstellung frei und unterliegt keinem Kontingent.

Als Inländer gelten – dies ist besonders zu beachten – sowohl Schweizer wie auch in der Schweiz niedergelassene Ausländer aller Herkünfte. Der Inländervorrang ist nicht ein Schweizer-Vorrang. Er diskriminiert die hier lebenden Ausländer nicht.

Der Inländervorrang hat drei klare Vorteile. Erstens ist der Mechanismus bekannt und eingespielt. Er wurde bis Mitte 2007 für alle Ausländer angewandt und ist heute noch bei Drittstaaten-Angehörigen von ausserhalb des EU-Raums obligatorisch. Er verursacht zwar einen administrativen Aufwand und dauert zwei, drei Wochen länger (was noch verkürzbar ist). Die Firmen kennen die Praxis, und die kantona­len Ämter sind eingespielt.

Brüssel wird protestieren

Zweitens erlaubt ein sanfter Inländervorrang eine flexible Handhabung nach Kantonen und Bran­chen. Für Mangelberufe wie Ärzte, Biochemiker und Mikrobiologen kann der Meldemechanismus vereinfacht, bei Berufen mit Tausenden von Arbeitslosen aber strenger gehandhabt werden. Bewilligungen für Grenzgänger in Basel, die dort begehrt sind, lassen sich kantonal anders regeln als im Tessin, wo sie ungewollt als Lohndrücker wirken und das Klima vergiften.

Drittens ist der Inländervorrang nicht justiziabel: Ein Ausländer, der im Ausland lebt und bei der Stellenbewerbung nicht zum Zuge kommt, kann kaum beweisen, dass er «diskrimi­niert» worden ist. Der Kanton Genf praktiziert für seine offenen Stellen seit Jahren mit Erfolg einen Inländervorrang. Bisher gab es noch nie eine Klage eines ausländischen Bewerbers. Nur eine Einzelklage könnte das System aushebeln.

Hingegen hat der Kanton Genf Protest aus Brüssel gekriegt. Wegen einer Freiburger Rechtsprofessorin für Europarecht, die einfach ihr Lehrbuchwissen zur Geltung bringen wollte, hat Brüssel überhaupt Kenntnis von der Genfer Praxis erhalten und den Protest in den Gemisch­ten Ausschuss Schweiz-EU eingebracht.

Welche Lösung auch immer für die Steuerung der Zuwanderung angewandt wird: Die EU-Zen­trale wird dies reflexartig ablehnen und mit Nadelstichen politisch Einfluss nehmen, auch wenn die Schweiz nicht EU-Mitglied ist und der Bundesrat für uns mehr Flexibilität beansprucht. Die EU-Länder Osteuropas, die selber kaum Flüchtlinge beherbergen wollen, werden uns prü­geln. Und unsere Europarechtsprofessorinnen werden ohne Unterlass den Mahnfinger erheben.

Zeichen der Hilflosigkeit

Unsere Politiker sollten sich warm anziehen ob dieser Schelte. Zahlreiche EU-Mitgliedsländer verletzen derzeit zwar systematisch und willent­lich das EU-Migrationsrecht und erhalten dafür laufend Schelte aus Brüssel. Solche Drohungen sind auch ein Zeichen der Hilflosigkeit, denn Brüssel befürchtet eine weitere Erosion und hat wenig Druckmittel.

Bei einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Schweiz müssten zur Kündigung eines bilateralen Vertrags alle 28 EU-Mitgliedsländer zustimmen. An eine solche Einstimmigkeit glaubt heute niemand. Die Befürworter der Bilateralen müssen sich nicht Sorgen machen – wir brauchen angesichts der Brüsseler Drohmaschine einfach etwas starke Nerven.

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