Mehr von Flüchtlingen fordern – drei Vorschläge

Kolumen im Tagesanzeiger/Bund vom 28.11.2017

Am Rande der Ortschaft Lyss im bernischen Seeland wird in ehemaligen Werksgebäuden ein Zentrum für Flüchtlinge geführt. Es gehört zu sieben Asylzentren, die von Trägergemeinden im Seeland und der Stadt Biel geführt werden. Jede neu ankommende Asylperson wird gleich am Tag nach der Ankunft einer Putzequipe zugeteilt. Zwei bis drei Monate lang. Diese Arbeitserfahrung ist nicht bloss dazu da, die Arbeitskultur vorzuzeigen. Nein, die Arbeitserfahrung dient zugleich der individuellen Beurteilung und Potenzialabklärung: Was kann diese Asylperson? Was strebt sie an? Wie steht es mit der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft?

Nach längstens drei Monaten wird individuell und massgeschneidert ein Programm für Arbeitseinsätze im Zentrum, in der Gemeinde oder bei Landwirten sowie ein Plan für den Unterricht vereinbart. Der entscheidende Lerneffekt besteht in der Vermittlung hiesiger Werte: In der Schweiz wird gearbeitet, und der Aufenthalt müsste selber bestritten werden.

Jedes Werkzeug, jeder Apparat, jeder Besen in diesem Zentrum ist gut sichtbar auf Deutsch angeschrieben. Die Zentrumsleiter beteuern, dass die Asylpersonen auf diese Art mehr und rascher Deutsch lernen als nur im Klassenzimmer, zumal viele aus bildungsungewohnten Schichten stammen. Deutschunterricht gibt es auch, aber der Kanton Bern vergütet nur noch zwei Wochenstunden.

Tausende junge, gesunde Männer langweilen sich

Solche vorbildlichen Integrationsanstrengungen von Gemeinden und Institutionen gibt es mancherorts. Aber von den derzeit etwa 66’000 Personen im Asylprozess und den 30’000 anerkannten Flüchtlingen ist bloss eine Minderheit in einer festen Arbeitsstruktur integriert. Tausende junge, gesunde Männer langweilen sich ohne feste Struktur in Asylzentren. Für viele durchaus wohlwollende Bürger ist es unerträglich, wie junge Männer werktags in den Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen untätig herumhängen.

Wohl ist etwa jede zehnte Asylperson ausserordentlich strebsam, lernbegierig und erwirbt erstaunlich schnell die Landessprache. Solche Erfolgreiche werden dann rasch zu den von Medienleuten bevorzugten Vorzeige­migranten. Doch sie sind eine Minderheit.

Arbeitsintegration ist gescheitert

Seit 2010 erlebten wir mehrheitlich einen Typus von Armutsflüchtlingen aus bildungsfernen Schichten Afrikas und Asiens, die keine Arbeitserfahrung in einer betrieblichen Struktur mitbringen. Sie sind im Durchschnitt frühestens drei bis vier Jahre nach Ankunft bestenfalls zu einer niederschwelligen Vorlehre befähigt. Der Privatsektor bietet ihnen selten Arbeit.

In offiziellen Zahlen heisst dies Folgendes: Heute sind 88 Prozent aller Personen im Asylbereich Empfänger von Sozialhilfe! Von den anerkannten Flüchtlingen (Ausweis B) sind im fünften Jahr nach ihrer Ankunft in der Schweiz nur gerade 30 Prozent im Arbeitsprozess, meist in Stellen, die einen Zuschuss der Sozialhilfe erfordern. Von den vorläufig Aufgenommenen VA (Ausweis F) sind im siebten Jahr nach Ankunft bloss 47 Prozent in einem (Teilzeit-)Erwerb. Allerdings sind die Unterschiede von Kanton zu Kanton beträchtlich.

Die bisherige Integrationspraxis ist gescheitert und ruft nach einem Strategiewechsel:

  • Erstens muss in Zukunft idealerweise der Standard gelten: Wer in die Schweiz flüchtet und eine Bleibeperspektive aufweist, muss spätestens nach einer Woche in ein Arbeits- und Beschäftigungsprogramm integriert werden. Notfalls in geschützten Arbeitsplätzen. Solche Programme kann nicht der Bund bereitstellen. Doch in den kommunalen Werkhöfen, in öffentlichen Einrichtungen, Heimen, in der Quartierreinigung, im Landschaftsunterhalt, im Recycling geht die Arbeit nicht aus. Die zuständigen Gemeinde- und Kantonsangestellten müssen für die Betreuung einen Bonus erhalten. Privatbetriebe brauchen einen finanziellen Anreiz für Praktikanten in geschützten Arbeitsplätzen.
  • Zweitens müssen wir das hehre Prinzip «Bildung vor Arbeit» überdenken. Dies ist ein intellektuelles Top-Down-Konzept unserer Bildungselite, aber bei schulschwachen, bildungsfernen Asylpersonen in der Praxis untauglich. Ich gestehe, dass ich in meinem langen Engagement für die Berufslehre meine Ansichten auch dieser Realität anpassen musste. In der ersten Phase muss es vielmehr «Arbeiten mit Bildung» heissen.
  • Drittens muss jede Asylperson im Aufenthaltskanton verbindlich einer Coaching-Person zur Arbeitsvermittlung zugeteilt werden. Heute werden Asylbewerber oft von Zentrum zu Zentrum geschoben und dort von wechselnden Sozialarbeitern betreut, die keinen Bezug zum Arbeitsmarkt haben und in der Arbeitsvermittlung nicht ausgebildet sind.

Mehr fordern bei der Integration

Ich weiss, für ideell Gesinnte – die politisch das Rückgrat der humanitären Asylpraxis sind – tönt eine strengere Integrationspraxis befremdlich. Doch gerade sie müssten Interesse an einer erfolgreicheren Arbeitsmarktintegration haben.

Wer sich mit der Migrationsproblematik verantwortungsbewusst beschäftigt, muss das Buch des Berliner Soziologen Ruud Koopmans zur Kenntnis nehmen. Er zeigt in einem langjährigen Ländervergleich auf: Ausgerechnet jene Länder, die die grösste multikulturelle Toleranz und höchste Sozialleistungen gewährten – etwa Holland, Schweden, Wallonisch-Belgien –, haben heute die schlechteste Integration mit den höchsten Arbeitslosenquoten und den gefährlichsten Parallelgesellschaften von Ausländern. Integration ohne eine Strategie des Forderns scheitert. (Ruud Koopmans: «Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration».)

Die politische Quittung der mangelnden Arbeitsintegration wird folgen. Der Bund zahlt nämlich den Kantonen die Asylsozialhilfe nur für fünf respektive sieben Jahre. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe Skos warnt seit langem vor einer finanziellen Zeitbombe. Im Kanton Zürich haben zwei Drittel der Stimmberechtigten der Senkung der Sozialhilfe zugestimmt. Im Kanton Bern wurde ein Kredit für die Ausbildung von unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern UMA vom Volk leider abgeschmettert.

Die Konferenz der Kantonsregierungen rechnet vor, dass die Integrationsmassnahmen für Sprachausbildung, Berufsvorbereitung und Coaching im Durchschnitt 18’000 Franken pro Asylperson und Jahr kosten. Heute zahlt der Bund bloss einmalig 6000 Franken. Der Bund muss mehr Integrationskosten übernehmen. Dafür muss er den Kantonen auch strengere Vorgaben für die Beschäftigungs- und Arbeitsprogramme in den Gemeinden machen.

Es braucht einen Strategiewechsel in der Integrationspolitik: mehr Pflichten mit Sanktionsmöglichkeiten für Flüchtlinge, mehr Pflichten und Anreize für Gemeinden und Kantone. Diese Langfristaufgabe kann man nicht administrativ lösen. Es braucht ein politisches Projekt mit einer landesweiten Debatte. Die Kosten der Unterlassung werden ein Vielfaches höher sein.

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