Tages-Anzeiger – Dienstag, 12. April 2011
Die Sozialämter kennen eine neue Kundenkategorie. Die Sozialarbeitenden bezeichnen sie als «Hartz IV-Flüchtlinge», Langzeitarbeitslose aus Deutschland, die mit einem Arbeitsvertrag in die Schweiz eingereist sind und nach wenigen Wochen wieder arbeitslos sind. Ohne Karenzfrist melden sie sich bei der Sozialhilfe. In Deutschland erhielten sie als Langzeitarbeitslose unter Hartz IV rund 700 Franken pro Monat plus Wohngeld; in der Schweiz beziehen sie 960 Franken Grundgehalt plus 900 Franken Wohnkostenentgelt pro Person plus Krankenkassenprämien und Zahnarztkosten.
Für eine ähnliche Zuwanderung ins Sozialhilfesystem sorgen ungelernte Migranten aus dem wirtschaftlich rückständigen Norden Portugals, das derzeit unter grosser Rezession leidet.
Gemäss offizieller Sprachregelung bringt uns die Personenfreizügigkeit mit der EU hoch qualifizierte und hochbegehrte Arbeitskräfte aus Deutschland und Nordeuropa. Doch unter den ebenso zahlreichen Zuwanderern aus den südlichen EU-Staaten haben über 30 Prozent keine Ausbildung nach der obligatorischen Schule. Unter den Zuwanderern aus Portugal sind es sogar 55 Prozent.
Der grösste Gemüseproduzent im bernischen Seeland rekrutiert seit langem portugiesische Arbeitnehmer, meist bildungsferne Familien vom Land. Dies mit entsprechenden sozialen Folgen: Drei Viertel der Schüler, die in der örtlichen Schule sonderpädagogische Massnahmen benötigen, sind aus portugiesischen Familien. Der Chef der besagten Gemüsefirma in diesem Seeländer Dorf (es gibt dort nur eine Partei, die SVP) hat schon angekündigt, künftig würden vor allem Polen kommen. In der Schule sei dann mit Polenkindern zu rechnen.
Am kommenden 1. Mai kommt nämlich die Personenfreizügigkeit mit den acht EU-Ostländern voll zum Tragen. Arbeitgeber können nun ohne Bewilligung, ohne bürokratische Hemmnisse und ohne Kontingente Billigarbeiter im Osten rekrutieren. Die bisher zugewanderten 6000 Personen pro Jahr aus den acht EU-Ostländern waren mehrheitlich Ungelernte: Rund ein Drittel wurden als Niedriglohnarbeitende von der Landwirtschaft rekrutiert, ein weiteres Drittel von Gastgewerbe, Hotellerie und Hauswirtschaft. Und genau diese Branchen wollen weiter rekrutieren. Es ist paradox: Ausgerechnet jene Branchen rekrutieren am meisten billige und bildungsferne Ausländer und Ausländerinnen, welche der SVP am nächsten stehen. Jener Partei also, die in Ausländerfragen am meisten polarisiert.
Statistisch ist gesichert: Leute ohne berufliche Ausbildung haben ein dreimal grösseres Risiko, arbeitslos zu werden oder zu bleiben, als solche mit einem Berufsabschluss. Ausserdem haben Ungelernte ein dreimal grösseres Risiko, zu Sozialhilfebezügern zu werden. Und von denen, die schon Sozialhilfe beziehen, sind 60 Prozent Ausländer oder Eingebürgerte mit Migrationshintergrund.
Niemand fragt heute, wie neue Zuwanderer die bisherigen Einwanderer verdrängen. Besser qualifizierte Fachleute aus Deutschland und andern EU-Staaten haben in den letzten Jahren Zehntausende von Beschäftigten aus dem Balkan und Südeuropa aus der Gastrobranche verdrängt. Nicht wenige landeten im Sozialsystem. Das Staatssekretariat für Wirtschaftt (Seco), die Arbeitgeber und der Wirtschaftsverband Economiesuisse preisen stets die Vorzüge der Personenfreizügigkeit. Niemand fragt nach deren Folgelasten: für das Sozialsystem, für Schulen und Lehrer, für den Wohnungsmarkt. Motto: Die Gewinne privat – die Kosten dem Staat!
Was bedeutet dies für unsere Migrationspolitik, für die Personenfreizügigkeit und Europapolitik?
Eine Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU fällt ausser Betracht. Und alle, die sie fordern, propagieren sie bloss zur politischen Polarisierung im Wissen, dass sie nicht umsetzbar ist. Aber strengere Regeln im Inland, eine striktere Grenzziehung zwischen Arbeitsmigration und Immigration ins Sozialsystem, schärfere flankierende Massnahmen gegen Missbräuche wären durchaus möglich und kompatibel mit dem EU-Recht.
Der Bundesrat muss ein Inlandkonzept für die Personenfreizügigkeit und ein entsprechendes Aktionsprogramm formulieren. Es muss den krass unterschiedlichen Bildungssystemen und Lohnniveaus Rechnung tragen, die Kantone zu einer strengeren Praxis drängen und für einen vollständigen Informationsaustausch zwischen den Sozialämtern sorgen.
Einen ersten Schritt hat das Bundesamt für Migration, das schon länger auf eine konsequentere Praxis drängt, mit dem Seco unternommen: Mit einem Schreiben vom 4. März 2011 haben sie die kantonalen Migrationsund Arbeitsämter angehalten, die Aufenthaltsbewilligung sofort zu entziehen, wenn EU-Angehörige mehr als sechs Monate ohne Arbeit in der Schweiz weilen oder wenn sie in den ersten fünf Jahren nach Einwanderung mehr als zwölf Monate arbeitslos waren. Viele Kantone hatten dies zuvor nicht durchgesetzt. Und die Sozialhilfeämter zahlten freimütig.
Nötig ist auch eine Verstärkung der Lohnkontrollen auf Baustellen, in Gastrobetrieben, in der Hauswirtschaft, in Landwirtschaftsbetrieben. Es braucht schweizweit ein Mindestlohn- Konzept. Denn Mindestlöhne sind im Rahmen der Personenfreizügigkeit beinahe das einzige wirtschaftspolitische Instrument, um eine Zuwanderung von bildungsfernen Schichten aus Osteuropa und Portugal in den strukturschwachen Branchen zu begrenzen.
Auch eine Verschiebung der vollen Freizügigkeit mit Rumänien und Bulgarien von 2014 auf 2016 wäre mit EU-Recht kompatibel und liesse sich durchsetzen. Der Bundesrat muss dieses Jahr darüber entscheiden.
Mir ist bewusst, dass solche Warnungen nicht überall gefallen. Bald einmal taucht der Vorwurf der politischen Unkorrektheit auf. Doch sollte man nicht länger wegschauen, wenn es Probleme gibt. Denn niemand profitiert mehr von einer solchen Problemverdrängung als die nationalistische Rechte.
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