Interview im Tagesanzeiger: Thomas Jordan ist ein ängstlicher Mensch und scheut Reformen

Interview im Tagesanzeiger vom 08.01.2018

Wie beurteilen Sie den hohen Gewinn der Nationalbank?
Er sieht prima vista erfreulich aus. Aber er verwirrt auch, weil im Begriff «Gewinn der Nationalbank» ganz unterschiedliche Positionen versteckt sind: Da ist einerseits der effektive, reale Ertrag aus den fremden Anlagen der Nationalbank, und dort ist anderseits der Buchgewinn der Anlagen in fremden Währungen, in Aktienanlagen, im Goldbestand und so weiter. Dann sollte man auch die «Gewinne» aus den Negativzinsen separat betrachten. Es besteht seit langem ein Handlungsbedarf, dass man im Nationalbank-Ausweis die realen Anlageerträge und die Buchgewinne/-verluste auseinanderhält und auch anders benennt. Schon 2002 wurde diese Forderung im Parlament diskutiert.

Nur 2 von 67 Milliarden Gewinn aus diesem und dem Vorjahr werden an die öffentliche Hand verteilt. Was halten Sie von den aktuellen Regeln der Gewinnverteilung?
Dieses Missverhältnis entsteht aus der eben beschriebenen Vermischung der «Gewinn»-Komponenten. Die heutige Praxis der Gewinnausschüttung an Bund und Kantone ist ein Anachronismus: Da wird Jahr für Jahr zwischen SNB und Kantonen ausgehandelt, wie viel die SNB zu zahlen bereit ist. Aber es gibt keine gesetzlichen Regeln der Gewinndefinition und der Gewinnausschüttung wie zum Beispiel bei der deutschen Bundesbank. Das ist ein rechtsstaatlicher Missstand, der natürlich auch gewollt ist.

Als Argument gegen eine grössere Ausschüttung wird gesagt, das wecke nur die Begehrlichkeiten der Politik und gefährde die Unabhängigkeit der Nationalbank. Gewinne sind ja auch nicht ihr Ziel. Was sagen Sie dazu?
Ich teile die Meinung, dass ein Noteninstitut nicht zum Ziel hat, Gewinne zu erwirtschaften. Die SNB ist ja nicht einfach eine Bank – der Begriff ist historisch von 1907 –, sondern eine Geld- und Währungsbehörde, die von der Regierung unabhängig operieren soll. Aber wenn effektive Erträge aus externen Anlagen erwirtschaftet werden, dann gehören diese dem Eigner, also den Kantonen, dem Bund und den wenigen Aktionären. Schliesslich ist das Nationalbankvermögen ein Volksvermögen! Die Verhinderung von rechtsstaatlichen Ausschüttungsregeln basiert auf der antietatistischen Vulgärideologie, man sollte bei den Politikern nicht Begehrlichkeiten wecken. Selbst klare, gesetzliche Ausschüttungsregeln würden die Unabhängigkeit der Geld- und Währungspolitik in keiner Weise einschränken.

Können Sie die Argumentation der SNB nachvollziehen, dass sie das Geld dringend zu einem weiteren Aufbau der Eigenmittel braucht?
Ja, Eigenmittel braucht sie. Aber so viel zusätzliche Eigenmittel, wie sie jetzt anfallen, sind schlicht nicht nötig. Das ist eine Schutzbehauptung von Thomas Jordan. Er ist einfach ein ängstlicher Mensch und scheut sich vor Reformen. Ich hatte gerade in dieser Frage auch Diskussionen mit ihm, andere Ökonomen auch.

Von verschiedener Seite wurde ein Staatsfonds gefordert, der aus den Devisenreserven der SNB oder aus den Gewinnen geäufnet werden soll. Was halten Sie von diesen Ideen und von der Gegenwehr der SNB?
Das ist eine längst fällige, aber auch verwirrende Diskussion. Es ist einerseits klar, dass die SNB auf die Dauer nicht eine Bilanz von rund 800 Milliarden Franken, wovon etwa 95 Prozent Anlagen in Fremdwährungen, vor sich hin schleppen darf. Ein Teil muss in einen Fonds der Nationalbank ausgelagert und dessen Bewirtschaftung gesetzlich geregelt werden. Es ist anderseits aber auch klar, dass es sich nicht um einen Staatsfonds à la Norwegen oder Katar oder Singapur handelt. Diese Fonds speisen sich aus effektiven Exporterträgen von Erdöl, Erdgas und so weiter. Fazit: Ich bin für einen ausgelagerten «National-Anlage-Fonds», verwaltet von der Nationalbank, aber nicht für einen Selbstbedienungsladen für Budgetpolitiker. Deprimierend ist, dass auch dieser Reformbedarf einfach nicht angegangen wird.

«Die SNB-Leitung hatte im Jahreswechsel 2014/2015 einfach die Nerven verloren oder war dem Druck gefolgt.»

Wann kann die Notenbank die Zinsen anheben und mit dem Abbau der Bilanz beginnen?
Das ist wohl die schwierigste Frage. Der richtige Moment hängt von der Euro-Situation ab. Angesichts der fundamentalen Disparitäten innerhalb der Eurozone traue ich der gegenwärtigen Stabilität nicht ganz. Auf jeden Fall verstehe ich es, wenn die SNB mit Korrekturen noch abwartet. Vielleicht ist die Ängstlichkeit des SNB-Direktoriums in diesem Punkt sogar weise. Eine zu frühe «Normalisierung» würde den Frankenkurs wieder hochjagen.

Wie beurteilen Sie die Negativzinsen, die vor allem in der Finanzbranche, aber auch in der Öffentlichkeit ungern gesehen werden. Halten Sie die Rechtfertigung dafür trotz der besseren Wirtschaftsdaten noch ausreichend für gegeben?
Ich war damals Kritiker der abrupten Preisgabe des festen Euro-Mindestkursverhältnisses 1 zu 1.20. Aber wenn es mal da war, zeigten sich die Negativzinsen als die am wenigsten schlechte Strategie. Natürlich reklamieren die Anleger; aber sie übersehen, dass die Negativteuerung ihr Vermögen in dieser Zeit nicht geschmälert hat. Das Lamento der Pensionskassenverwalter über die Negativzinsen ist übertrieben und verdeckt ihre falsche Anlagepolitik. Wären sie nämlich in Wohnliegenschaften geblieben, hätten sie Jahr für Jahr eine Anlageperformance von 4 bis 5 Prozent realisieren können.

Wie beurteilen Sie aus dem Rückblick die Abschaffung des Mindestkurses der Notenbank? Wie sich jetzt zeigt, musste sie bis zum Sommer dennoch grosse Summen in Devisenkäufe investieren.
Schauen Sie auf die SNB-Bilanz: Bei der Aufhebung des Mindestkurses im Januar 2015 war sie bei rund 500 Milliarden, jetzt bei rund 800 Milliarden Franken! In der Zeit des freien Wechselkurses musste die SNB also fast 300 Milliarden zusätzliche Devisenkäufe tätigen, um den Aufwertungsdruck abzuschwächen. Ich neige zur Annahme, beim Festhalten am Mindestkurs wären es nicht mehr gewesen! Die SNB-Leitung hatte im Jahreswechsel 2014/2015 einfach die Nerven verloren oder war dem Druck gefolgt. Während der vorangehenden 40 Monate mit festem Mindestkurs hatte sie nur während vier Monaten intervenieren müssen, wie uns Prof. Peter Bernholz später vorrechnete.

Welche Bedeutung hat die aussergewöhnliche Geldpolitik der SNB der letzten Jahre Ihrer Meinung nach für die Zukunft? Hätte sie noch die Glaubwürdigkeit, um einen Mindestkurs einzuführen?
Alle Schweizer müssen erkennen, dass die Notenbanken überall in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren Machtzuwachs errungen haben. Auch in Zukunft wird die Geld- und Währungspolitik der SNB die Wirtschaft mehr steuern als Bundesrat und Parlament zusammen. Je mehr sich der Staat von der Fiskalpolitik, also der Steuerung über Steuern und Ausgaben zurückzieht, desto wirksamer wird der Nationalbankeinfluss auf die Volkswirtschaft.

Wo sehen Sie den dringendsten Reformbedarf bei der Nationalbank?
Ich bin schon lange der Auffassung, dass die Governance-Frage bei der Nationalbank angegangen werden. Es gibt kein zivilisiertes Industrieland in der Welt, wo nur drei Direktoren allein und – gemäss Doktrin – unabhängig über derart existenzielle volkswirtschaftliche Parameter entscheiden. Das System mit dem Dreierdirektorium stammt von 1907. In der ganzen Führungsfrage besteht längst Reformbedarf. Das Direktorium muss unabhängig bleiben, aber es muss erweitert und pluralistischer werden! Auch die Zielsetzung der SNB-Politik ist im Lichte der Erfahrungen mit der Finanzkrise zu überdenken. Eigentlich wäre jetzt, in der Phase der relativen währungspolitischen Ruhe, ein geeigneter Zeitpunkt. Doch den Führungspersonen im SNB-Direktorium, im Bankrat und im Eidgenössischen Finanzdepartement mute ich derzeit die nötige Durchsetzungsfähigkeit nicht zu.