Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom 09.01.2018
Das war ein Schock für die Schweiz, so kurz vor Weihnachten! Der Blitz aus dem Brüsseler Himmel zerstörte nach der vorangehenden Küsschenszene von EU-Präsident Jean-Claude Juncker allen europapolitischen Optimismus. Der Schock kam nach jener Brüsseler Verlautbarung, wonach die Schweizer Börse SIX nur noch auf ein Jahr befristet die Aktien von EU-Unternehmen handeln dürfe, wenn nicht innert 12 Monaten «ausreichende Fortschritte» beim institutionellen Rahmenabkommen (von Juncker als «Freundschaftsabkommen» bezeichnet) erzielt werden.
Die Medien sprachen von «Erpressung», «Powerplay», «Druckversuchen» und einem illegalen Akt. Jedes Bundesratsmitglied wählte seine eigene Tonalität. Von den Parteipräsidenten kamen die üblichen Kraftmeierausdrücke und Schuldzuweisungen. Nach dieser Kakofonie und Wirrnis ist derzeit nur eines klar: Unser Land, alle Parteien, die Wirtschaft und die Regierung sind in der Europafrage heillos gespalten. Die Schweiz ist führungslos in einer Entscheidstarre.
Nach diesem Brüsseler Ultimatum wird sich nun ganz Bundesbern mit starrem Röhrenblick der angeblich bedrohten Schweizer Börse SIX zuwenden und auf Konzessionen gegenüber Brüssel einschwenken. Dies, obwohl 99 Prozent der Schweizer keinen Ertrag aus der Börse SIX ziehen, zumal der Bundesrat ja die Stempelsteuer auf Börsenumsätzen (Gesamtertrag 2,4 Milliarden Franken pro Jahr) aufheben will. Insofern hat der «schlaue Fuchs Juncker» (Micheline Calmy-Rey) taktisch zielgenau die lobbymächtigste Bankenbranche als Beschleuniger mobilisiert.
Unbekanntes Rahmenabkommen
Alle sprechen vom «institutionellen Rahmenabkommen», und niemand kennt es genau. Ich versuche hier aufgrund meiner Nachforschungen den Grundmechanismus dieses weittragenden, übergreifenden Rahmenvertrags zu erklären.
- Die EU verlangt, dass die Schweiz die Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktrechts laufend übernimmt und die Änderungen dynamisch umsetzt. Damit muss der Vollzug der bisherigen Abkommen Schweiz – EU inhaltlich ständig angepasst werden.
- Die EU will, dass nur eine einzige Instanz dieses EU-Recht für den Vollzug in der Schweiz auslegen darf, nämlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.
- Sie will in Zukunft eine ständige wirksame Überwachung über die Einhaltung der Anpassungen durch die Schweiz.
- Und die EU will einen Durchsetzungsmechanismus bei der Streitbeilegung, wenn die Schweiz die EU- und EuGH-Auslegung nicht in der Praxis nachvollziehen sollte.
«Dem EU-Powerplay werden Tür und Tor geöffnet.»
Dies ist die grosse Knacknuss. Wenn die Schweiz diese Auslegung nicht übernimmt, kann die EU «angemessene Ausgleichsmassnahmen», sprich Sanktionen, verhängen. Wie diese Sanktionen festgelegt werden, ist noch nicht geregelt. Im Gespräch ist ein Schiedsgericht mit einem neutralen Präsidenten. Es soll über die «Verhältnismässigkeit» der Sanktionen befinden können. Aber die Sanktionstatsache bleibt bestehen. Eine solche sachfremde Sanktion hat uns Brüssel vor Weihnachten mit seiner einseitig proklamierten, WTO-widrigen Befristung für den EU-Aktienhandel über die Schweizer Börse demonstriert.
Der SRG-Radiojournalist Oliver Washington behauptete aus Brüssel, mit einem institutionellen Rahmenabkommen würde ein solches Powerplay der EU dann hinfällig. Da liegt er falsch und macht sich zum EU-Sprecher. Das institutionelle Rahmenabkommen eröffnet gerade diesem Powerplay mit Sanktionsandrohungen Tür und Tor. Die Schweiz würde sich dabei ständig zwischen der Übernahme des veränderten EU-Binnenmarktrechts und den jeweiligen EU-Sanktionsandrohungen winden.
Wie ist dieses fundamental neue Regelsystem mit der dynamischen Anpassungspflicht einzuordnen? Die Exportwirtschaft wird sich anpassen können. Sie tut es heute schon laufend. Die Konsumenten können von einer Fortentwicklung sogar einige Vorteile erwarten, etwa bei günstigeren Importen (keine Ausnahmen mehr beim Cassis-de-Dijon-Prinzip; Zulassung von Parallelimporten auch bei patentierten Pharmaprodukten; Angleichung von Roamingtarifen). Der Konsumentenschutz ist in der EU da und dort leicht besser ausgebaut als in der Schweiz.
Lohnschutz offengelassen
Der grosse Knackpunkt liegt jedoch bei den flankierenden Lohnschutzmassnahmen (Flam) im Rahmen der Personenfreizügigkeit. Rund 90 Prozent aller EU-Beschwerden gegen die Schweiz im Gemischten Ausschuss betreffen nämlich die Schutzmassnahmen für Schweizer Arbeitnehmer und Gewerbebetriebe. Diese Tatsache wird in Bundesbern gerne verschwiegen.
Es geht zum Beispiel um die 8-Tage-Regel für die Voranmeldung von grösseren Aufträgen ausländischer Bauunternehmen in der Schweiz. Es geht um die Kautionspflicht mit Hinterlegung eines Depotbetrags für den Fall des Lohn- und Sozialdumpings durch ausländische Firmen. Es geht um das Prinzip «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort», welches vom EuGH teilweise ausgehebelt und neuerdings von den Franzosen allerdings wieder gestützt worden ist. Es muss auch eine Garantie für den vom Parlament beschlossenen Inländervorrang für Stellensuchende festgeschrieben werden.
Genau die Flam-Schutzmassnahmen sind im Visier von Brüssel, das seinerseits von süddeutschen und grenzfranzösischen Bauunternehmern unter Zugzwang gesetzt wird. Die EU-Formel «kein Parallelrecht» ist bloss ideologischer Überbau. Dahinter stehen knallharte ausländische Interessen, um das Lohnniveau in der Schweiz mit ungehindertem Marktzugang und tieferen Löhnen unterbieten zu können!
Ohne schriftliche Garantien macht der EuGH die Flam mit einem Federstrich dereinst zur Makulatur.
Exakt diese Lohnschutzmassnahmen sind matchentscheidend im institutionellen Rahmenabkommen. Aus sicherer Quelle ist bekannt, dass genau diese Fragen von den Schweizer Unterhändlern mit Brüssel noch nicht einmal angesprochen, geschweige denn ausgehandelt worden sind! Ich würde sagen, das institutionelle Rahmenabkommen ist deshalb noch nicht mal zu 50 Prozent materiell unter Dach!
Wenn die Flam, der Inländervorrang, ein klarer Ausschluss der Unionsbürgerschaft und des Sozialhilfemissbrauchs nicht klipp und klar und schwarz auf weiss im Rahmenabkommen ausdrücklich gesichert sind, kann der Bundesrat das Vertragswerk gleich zur Makulatur erklären. Ohne schriftliche Garantien macht sonst der EuGH die Flam mit einem Federstrich dereinst zur Makulatur.
Es ist zu erinnern, dass die bilateralen Verträge I im Jahr 1999 nur dank dem damaligen Versprechen der flankierenden Lohnschutzmassnahmen angenommen wurden. Auch für das institutionelle Rahmenabkommen hatte der Bundesrat die Flam in seinem Verhandlungsmandat zur «roten Linie» erklärt.
Nach dem vorweihnachtlichen Powerplay aus Brüssel ist es vordringlich, diese rote Linie in Erinnerung zu rufen. Man sollte die Verhandlungen mit der EU weiterführen, und zwar mit klareren Vorgaben. Ohne eindeutige Garantien wird das institutionelle Rahmenabkommen scheitern.