Ein Hilfsplan für den Maghreb

Tages-Anzeiger und Bund – Kolumne vom Dienstag, 24. Mai 2011

Die Entwicklungshilfe des Bundes ist heuer fünfzig. 48 dieser 50 Jahre habe ich aktiv mitverfolgt: als früher entwicklungspolitischer Aktivist, als Praktikant in Einsätzen, als Geschäftsführer der Erklärung von Bern, Buchautor, Mitgestalter des ersten Gesetzes zur Entwicklungszusammenarbeit.

Viele Milliarden an Steuergeldern hat der Bund in diesem halben Jahrhundert in die Entwicklung der armen Welt investiert, viele Milliarden an Spendengeld sind zusätzlich über die privaten und kirchlichen Hilfswerke geflossen. Ein Mehrfaches davon, statistisch belegt durch Nationalbankzahlen, ist allerdings an Fluchtgeldern im selben Zeitraum auf Schweizer Konten gelandet. Viele der frühen Entwicklungsprojekte sind zu einem Erfolg geworden, haben der Armutsbekämpfung gedient und die Lebenssituation von Hunderttausenden verbessert. Das hart umkämpfte schweizerische Entwicklungszusammenarbeitsgesetz von 1976 formuliert als oberstes Ziel (zu diesem Kompromiss gelangten Befürworter und Gegner damals), dass die Ärmsten in den Entwicklungsländern zu fördern seien. Auch die schweizerische Entwicklungshilfe hat dieses Ziel letztlich aber nicht erfüllt. Was ist falsch gelaufen? Warum ist man in Afrika und Zentralamerika mit der Armutsbekämpfung noch nicht weiter?

Viele Faktoren – von historischen Abhängigkeiten über falsche, als Hilfe getarnte Exportförderung der Geberländer bis hin zu schlechten Rohstoffpreisen – haben die Armut verlängert. Und zwei Schlüsselfaktoren in der Entwicklungspolitik wurden schlicht unterschätzt:

Erstens haben wir, ich schliesse mich selbstkritisch mit ein, die Korruption der Eliten in den Entwicklungsländern unterschätzt. Der als moralisch gepriesene afrikanische Gemeinschaftssinn – in Ostafrika der Ujamaa-Gedanke – hat sich mit zunehmenden ausländischen Hilfeleistungen zu einer hartnäckigen Klientelwirtschaft entwickelt: Wer zu Geld kommt, muss seine Verwandten und seinen Clan unterstützen, muss möglichst rasch absahnen und Transfers an seine Familie finanzieren. Das wird gemeinhin als moralische Gemeinschaftspflicht und keineswegs als korrupt oder ehrenrührig empfunden.

Zweitens haben wir unterschätzt und tun es immer noch, dass die jahrzehntelange Dauerfinanzierung zu einer passiven Empfängermentalität führt: Die Entwicklungshilfe hat die Eigenverantwortung nicht gestärkt, sondern durch langjährige Assistenz von aussen zerstört. Von Entwicklungsagenturen erstellte Infrastrukturen, Strassen, Schulhäuser lässt man verlottern, bis die nächsten Entwicklungshelfer kommen und eine Sanierung anbieten. Der es gut meinende, aktive Helferwillen des Westens hat unbeabsichtigt die Passivität der Empfänger gefördert. Und die anhaltenden Nahrungsmittellieferungen haben die Landwirtschaft kaputt gemacht. Die regierenden Eliten haben die Entwicklungs- und Finanzhilfe dazu missbraucht, Ressourcen für sich und ihre Clans abzuzweigen. Diesen mentalen Wandel durch die Dauerhilfe haben wir verdrängt.

Welche Prioritäten sollen in Zukunft gelten? Die Entwicklungszusammenarbeit sollte sich wieder vermehrt, wie in den ersten Jahren, auf die Entwicklung von produktiven Kräften durch Berufsbildung ausrichten. Die Organisation Swisscontact konzentriert sich heute fast als einzige mit grossem Erfolg auf die Ausbildung von Berufsleuten. Diese Ausrichtung ist in den letzten Jahren verkümmert. In den Anfängen der schweizerischen Entwicklungshilfe war das anders. Inzwischen werden bloss noch 20 von 1500 Bundesmillionen pro Jahr für Berufsbildung eingesetzt.

Das Parlament hat vom Bundesrat 2004 zwar verlangt, dass vor allem in der Osteuropa-Hilfe auf Berufsbildung gesetzt werde. Dieser Parlamentsauftrag ist aber schlicht nicht befolgt worden. Zwischen der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und dem Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) gibt es keine ständige fachliche Zusammenarbeit. Das BBT finanzierte selber Berufsbildungsprojekte ohne gesetzliche Grundlage in Indien. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wiederum, das in Schwellenländern arbeitet, teilt trocken mit, dass es keine Projekte im Bereich Berufsbildung unterstütze. Als EDA-Chefin Micheline Calmy-Rey unlängst Tunesien besuchte, verkündete sie dort, die Schweiz werde tunesische Praktikanten ausbilden. Doch in den zuständigen Ämtern weiss niemand etwas von einem Auftrag. Die eine Hand weiss nicht, was die andere tut.

In Tunesien ist mehr als ein Drittel der Jugendlichen arbeitslos. Über 80 000 Universitätsabsolventen jährlich werden in dem nordafrikanischen Land nach dem französischen Bildungssystem ausgebildet. Etwa ein Viertel dieser Uni-Abgänger findet einen angemessenen Job in der Regierungsbürokratie und in der schmalen Privatwirtschaft. Die andern bringen sich bestenfalls als Kellner, Taxichauffeure und Tourismusführer durch. Aber in ganz Tunesien fehlt es an Automechanikern, Elektrikern, Spenglern oder Maurern mit beruflicher Qualifikation. Betriebliche Berufslehren gibt es keine, Lehrwerkstätten nur vereinzelte.

Amerikanische und deutsche Ökonomieprofessoren rufen jetzt nach einem «Marshallplan für Tunesien», also nach einer gigantischen Finanzhilfe der Industrieländer. Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit könnte eine nachhaltigere Wirkung als blosse Finanzhilfe haben, würde sie auf unser Erfolgsmodell Berufsbildung setzen. Im Falle Tunesiens brächten schon einjährige Berufsbildungsgänge viel. Die Zusicherung von Praktikumsplätzen in Tunesien, nicht in der Schweiz, könnte mit der Rückführung von Wirtschaftsflüchtlingen verbunden werden. Wer dort eine einjährige Ausbildung in einer Lehrwerkstätte absolviert hat, braucht nicht lange nach Arbeit zu suchen und kann sich vielleicht sogar selbstständig machen.

Die Schweiz könnte mit spezifischen Berufsbildungsprojekten zum Beispiel für Automechaniker, Haustechniker, Monteure oder Pflegefachpersonen im Maghreb genau in jenen Bereichen nachhaltige Armutsbekämpfung leisten, in der die lateinischen und angelsächsischen Industrieländer nichts anzubieten haben. Weil Letztere die Berufslehre nicht einmal kennen. Dies würde allerdings eine stärkere Praxisorientierung der schweizerischen Entwicklungshilfe und eine Kooperation aller Akteure erfordern. Entwicklung fordert auch unsere Lernfähigkeit heraus.

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