Dunkelkammern und Grauzonen des Arbeitsmarkts – Schwarzmarkt Schweiz

Kolumne von Rudolf Strahm, TA-Media,  17. 5. 2022

Der Film «Schwarzarbeit» zeigt, warum die flankierenden Massnahmen im Ringen mit der EU keinesfalls geopfert werden dürfen.

Wer weiss schon, was im schweizerischen Arbeitsmarkt in seinen Dunkelkammern und Grauzonen abläuft? Nur wenige haben Einblick in die reale Situation. Davon wissen bloss die Arbeitnehmer in den Betrieben, einzelne Gewerkschaftssekretäre und die Arbeitskontrolleure der Kantone, die von Tag zu Tag auf Baustellen, in der Gastroszene und bei Dienstleistern die Lohn- und Arbeitsschutzmassnahmen inspizieren.

Der Dokumentarfilm «Schwarzarbeit», der derzeit in über 50 Kinos läuft, zeigt die Realität einer Schattenkultur, die aufwühlt und die man nach dem Film nicht mehr vergisst. An 70 Drehtagen hat der Filmemacher und Kameramann Ueli Grossenbacher die Arbeitsmarktkontrolleure des Kantons Bern begleitet und gefilmt. Der spannende Film verzichtet auf Kommentare. Wer ihn anschaut, sieht die Arbeitswelt mit anderen Augen (lesen Sie hier mehr zum Film).

Da arbeitet ein 20-jähriger Mazedonier mit einem Touristenvisum schon seit vier Monaten schwarz als Anschläger, Schaler und Putzer auf Baustellen, beschäftigt von einem Sub-Sub-Unternehmer, der Beni heisst und einem oberen Chef, der Ali heisst, aber nicht auffindbar ist. Arbeitsdokumente oder einen Vertrag hat er nicht. Er bekommt monatlich 3000 Franken in bar auf die Hand, kein Abzug für AHV oder Versicherungen. 

Da ist eine Frau, die gebrochen Italienisch spricht. Sie arbeitet vollzeitlich in einer Gelateria und erhält 1270 Franken plus Vergütung für Krankenversicherung und fürs Wohnen. Der Chef erstellt jeden Monat zwei Lohnabrechnungen, eine auf den Lohnbetrag von 2400 Franken, den nimmt er für sich für die Buchhaltung. Und die andere für die Mitarbeiterin für die 1270-Franken-Auszahlung.

Da folgen wir den Arbeitskontrolleuren in eine Gastroküche. Ein Küchenhelfer verschwindet schnurstracks. Nach langem Fragen und Suchen findet ihn der Arbeitskontrolleur mit seiner Taschenlampe im Keller versteckt, wohl weil er so instruiert worden ist. Keine Dokumente, keine Auflistung in der Lohnliste. 

In einem wild betriebenen Detailhandelsladen arbeitet ein «Manager» sieben Tage in der Woche, 10 Stunden täglich. Sein Basislohn beträgt 550 Franken im Monat plus ein Bonus unbekannter Höhe. Er sei der «Manager», betont er. Man hatte es ihm so beigebracht, weil Angestellte in einer Leitungsfunktion nicht der Arbeitskontrolle unterstehen.

Eine osteuropäische Betreuerin einer alten Frau arbeitet in einer Villa, vermittelt von einer Agentur für drei Monate, weil danach das Touristenvisum abläuft. Im Agenturvertrag ist kein Lohn festgehalten, aber eine Arbeitszeit von 6,5 Stunden pro Tag. Effektiv sind es aber 20 Stunden Präsenzpflicht täglich. Versprochen hatte ihr die Agentur 2500 Franken pro Monat brutto, ausbezahlt erhält sie 2060 Franken, die Differenz nimmt die Agentur. Nach drei Monaten wird sie ausgewechselt.

Wir haben in der Schweiz dank der flankierenden Massnahmen (Flam) eine bessere Arbeitsmarktkontrolle als anderswo. Aber solche Missbräuche sind keine Einzelfälle. In 41’000 Kontrollfällen in einem Jahr stiessen sie bei 21 Prozent – einem Fünftel! – auf illegales Lohndumping, Scheinselbständigkeit oder Schwarzarbeit ohne Anmeldung. Diese Ergebnisse zeigen, dass eine dichte Kontrolltätigkeit nötig ist. Das geht aus dem Flam-Bericht des Seco hervor. 

Die Lohnschutzmassnahmen, wie sie heute in der Schweiz von den Sozialpartnern praktiziert werden, stehen auf der Abschussliste der EU und der hiesigen Euroturbos. Unter dem löchrigen System der EU-Entsendearbeit werden in Deutschland rund 20 Prozent der Arbeitnehmer im Lohn-Prekariat beschäftigt. Meistens sind es Arbeiter aus Polen, Rumänien, Bulgarien. In Frankreich gibt es noch viel mehr «Prekäre»; ganz zu schweigen von den Tiefstlohnmigranten auf Südeuropas Gemüsefeldern. Macrons Versprechen einer «Durchsetzungsrichtlinie» in der EU war nur fürs Schaufenster. 

Süddeutsche Unternehmer, die mit Billigarbeitern aus Polen und Osteuropa bei uns Bauhandwerksarbeiten ausführen, betrachten die Flam als Gängelei und Schikane. Ihr Interessenvertreter ist der CDU-Europa-Parlamentarier Andreas Schwab. Er war Partner der internationalen Anwalts- und Steuerberatungsagentur CMS Hasche Sigle, und früher wirkte er für die Handwerkskammern auch als Strippenzieher gegen die innerdeutschen Mindestlöhne. Bei den deutschen Gewerkschaften gilt er als Fundamentalist der «Binnenmarktfreiheit» für Unternehmer. 

«Unsere Europarechtler studieren stets nur die Rechtserlasse der EU vom Schreibtisch aus – und nie die Realität.»

Im Europaparlament ist ausgerechnet Schwab jetzt zuständig für die Beziehungen der Schweiz. Die ultimativen Forderungen der EU gegenüber der Schweiz entsprechen wörtlich den Forderungen des Baden-Württembergischen Handwerkstags an die Adresse Brüssels, nämlich: Abschaffung der Meldefrist, Verminderung der Kontrolldichte auf Baustellen, Beseitigung der Kautionspflicht für unsanktionierte Entsendefirmen. (Diese Angaben stammen von Unia-Gewerkschaftern, die mit deutschen Gewerkschaften zusammenarbeiten.)

Was die EU fordert, läuft in der Praxis auf die Durchsetzung einer «freien», sprich neoliberalen Arbeitsmarktpolitik hinaus. Sie schützt in der Realität immer noch das grenzüberschreitende Lohndumping. Unsere Europarechtler studieren stets nur die Rechtserlasse der EU vom Schreibtisch aus – und nie die Realitä

Warum ist die EU-Entsenderichtlinie nicht einfach auf unser System der Flam anwendbar? Es gibt einen fundamentalen Unterschied: Das schweizerische Lohnkontrollsystem basiert auf den Gesamtarbeitsverträgen der Sozialpartner, die in der Regel vom Bund für allgemeinverbindlich erklärt werden. Die kontrollierten Mindestlöhne sind sozialpartnerschaftlich vereinbarte Tariflöhne. Das Sanktionssystem verläuft nicht primär mit Gerichtsprozessen und Bussen, sondern mit Kautionen, also mit der Hinterlegung einer Summe durch den Auftragnehmer, die bei Regelverstössen beansprucht werden kann.

In der EU basiert demgegenüber die Kontrolle der Löhne auf einem (tiefen) staatlichen Mindestlohn. Wenn die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns auffliegt, läuft ein richterliches Verfahren mit Bussen, das regelmässig erst mit Jahren Verspätung greift – und erst noch der obersten Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs untersteht.

Diese etatistische EU-Lösung ist nicht kompatibel mit der sozialpartnerschaftlichen Arbeitskontrolle in der Schweiz. Die Europarechtsjuristen übersehen diesen fundamentalen Unterschied. Würde man diese andere Realität des Arbeitsmarkts bei uns ernst nehmen, entstünde mehr Verständnis für die abwehrende Haltung der hiesigen Gewerkschaften und der Gewerbeverbände. Und man würde auch – vielleicht contre cœur – zur Einsicht gelangen, dass eine Unterstellung des schweizerischen Arbeitsmarktrechts (wohl auch des Bürgerschaftsrechts) unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs nie eine Chance hat, angenommen zu werden. Nie, nie!

Publiziert  am 17. 5. 2022 Online in TA-Media sowie (leicht gekürzt) in Tages-Anzeiger und Der Bund