Die Schweiz braucht eine Migrations-Aussenpolitik

Tages-Anzeiger und Bund  – Dienstag, 24. Januar 2012

Dem Geschäftsbericht der Bundesverwaltung zur Asylpolitik ist folgende Textpassage zu entnehmen: «Erfolgreich konnten die vielen Tausend Asylbewerber aus Nordafrika in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden: Die meisten verzichteten nach dem negativen Asylentscheid auf ein Rekursverfahren und reisten fristgemäss und freiwillig zurück, weil ihnen neben den Rückreisekosten auch das Anrecht angeboten worden ist, in ihrem Herkunftsland entweder eine zweijährige Berufsausbildung in einer schweizerisch betriebenen Lehrwerkstätte zu absolvieren oder einen Mikrokredit als Starthilfe für eine Kleinbetriebsgründung vor Ort in Anspruch zu nehmen. Über 90 Prozent der Migrationspersonen reisten aufgrund dieser arbeitsmarktlichen Einstiegshilfen und wegen angedrohter Rückschaffungsfristen freiwillig zurück.» Im Bericht der Bundesverwaltung heisst es weiter: «Der schweizerische Sonder-Unterhändler hat den Regierungen Tunesiens und Algeriens die Errichtung und den Betrieb von je sechs Berufsbildungszentren durch die Schweiz angeboten. Im Gegenzug ist das Rückübernahmeabkommen für Asylbewerber rasch zustande gekommen und in Funktion getreten. Der tunesischen Regierung wurde überdies eine rasche Rückführung von Fluchtgeldern des gestürzten Herrschers angeboten. Der algerischen Regierung wurde eine Strafverfolgung der ultraislamistischen Agitatoren in der Schweiz in Aussicht gestellt. Die neue Migrations- Aussenpolitik des Bundesrats hat sich bewährt: Sie besteht in einer konsequenten Koppelung von Leistung des Asylherkunftslands (Rückübernahme von Asylpersonen) und Gegenleistung der Schweiz (Wirtschaftsund Ausbildungshilfe zur Arbeitsmarktbefähigung der Asylpersonen).»

So weit die Textausschnitte aus dem Verwaltungsbericht. Leider, leider sind sie erfunden! Sie beschreiben einen Traum, nämlich die Vision einer effizienten, wirksamen und humanen Migrations-Aussenpolitik gegenüber Migrations-Herkunftsländern.

Die Tausenden von tunesischen jungen Männern, die bei uns aus Italien einreisen, sagen bei der Erstbefragung unisono: Wir kommen in die Schweiz, weil wir Arbeit und Verdienst suchen. Kein einziger tunesischer Asylbewerber ist heute noch an Leib und Leben bedroht. Das sagen nicht nur die Befragungsexperten der Empfangszentren; das sagt auch Jean Ziegler, der seit der Jasminrevolution Tunesien mehrmals im Auftrag der UNO besucht hat und glaubwürdig die Menschenrechte hochhält. Allenfalls gibt es Vereinzelte, die als Folterer in der Leibgarde von Ben Ali gearbeitet hatten und sich durch ein Asylgesuch dem Strafverfahren entziehen.

Das Hauptproblem der Maghrebstaaten ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die Jasminrevolution war eben auch eine Jobrevolution, eine Revolte gegen die fehlende Perspektive des Heers von Universitätsabgängern, die nirgends gebraucht werden. Sie gelten als «Chômeurs diplômés», als diplomierte Arbeitslose. Ihre Zahl geht heute in die Hunderttausende.

Hingegen gibt es in Tunesien kaum Elektriker, Automechaniker oder Spengler, die diesen Namen verdienen. Pfusch und Bricolage sind Standard. Tunesien und Algerien hatten das marode französische Schulsystem geerbt, das heute selbst das Mutterland Frankreich im internationalen Wettbewerb unfähig macht.

Handwerker sind hoch begehrt: Wer nur schon ein oder zwei Jahre eine handwerkliche oder gewerblich-industrielle Berufsbildung absolviert hat, findet in Nordafrika rasch eine Stelle. Oder er eröffnet selber einen Kleinbetrieb, der nach ein paar Jahren bereits mehrere Arbeiter beschäftigt.  Warum spielt die Schweiz bei ihrer Wirtschaftshilfe und bei der Migrations- Rückführungspolitik nicht ihren international anerkannten Trumpf mit ihrer Berufsbildung aus? Warum bieten wir Tunesien und Algerien nicht den Betrieb von zum Beispiel je fünf bis sechs Berufsausbildungszentren an? Es wäre gescheiter, unsere öffentlichen Gelder für Asylbewerber zu deren Ausbildung in ihren Herkunftsländern einzusetzen, statt für teure Unterkünfte, Grenzwächter und Sicherheitsdienste bei uns!

Konkret kommen Lehrwerkstätten infrage, die operativ durch die Swisscontact (die einzige Entwicklungsorganisation, die noch etwas von Berufsbildung versteht) oder zum Beispiel durch die Berufsbildungsabteilungen der Swissmechanic, des Autogewerbeverbands, des Haustechnikgewerbes, der Maler-, Plattenlegerund anderer Berufsverbände betrieben werden – während fünf bis zehn Jahren mit Bundesfinanzierung.

So wie heute die «Stratégie de la Suisse en Afrique du Nord» in der Bundesverwaltung verzettelt aufgegleist ist, wird es bestimmt nie zu einer wirksamen Migrations-Aussenpolitik kommen: Vier verschiedene Bundesämter werkeln an je eigenen konzeptlosen Progrämmchen für Tunesien. Deza und Seco konkurrieren sich mit eher zufälligen Projekten. Das Seco verhandelt mit Algerien ein Freihandelsabkommen – ohne Rückkoppelung mit der drängenden Asylfrage. Die zuständige Abteilung im Aussendepartement verhandelt separat die Fluchtgeldrückführung mit Tunesien. Das Bundesamt für Migration seinerseits möchte Rückübernahmeabkommen. Die Ämter treffen sich zwar sporadisch, aber jedes pflegt sein Gärtchen und sucht sein eigenes Profil.  Kurz: Die Nordafrika-Planung ist dilettantisch, ineffizient, und es mangelt an strategischer Führung und Schwerpunktbildung. Die wichtigste Verhandlungsinstanz wäre eigentlich der beauftragte erfahrene Sonderbotschafter für internationale Migrations-Zusammenarbeit, Eduard Gnesa; aber dieser hat weder Weisungsbefugnis noch Budgetkompetenz.

Eine effiziente Migrations-Aussenpolitik würde heissen: Es braucht eine Schwerpunktbildung mit Priorität auf Berufsbildung für die Asylbewerber und ihre Rückführung. Es braucht die Zusammenlegung der verlustreich aufgesplitterten Tunesien-Budgets. Die Budgethoheit für den Gesamtbetrag muss beim Sonderbotschafter für Migrations-Zusammenarbeit gebündelt werden. Und er muss die Verhandlungskompetenz für alle Bereiche erhalten, damit er genügend Verhandlungsgewicht für ein Rückübernahmeabkommen hat.

In der Migrations-Aussenpolitik gilt: Klotzen, nicht Kleckern! Dazu braucht es einen strategischen Führungsentscheid auf höchster Ebene.

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