Die Konkordanz im Bundesrat muss wieder hergestellt werden

Tages-Anzeiger – Dienstag, 1. November 2011

Der Eiertanz um die Konkordanz und künftige Bundesratszusammensetzung hat begonnen. In den nächsten Wochen werden wir viele Taktikspiele, Geheimniskrämerei und Wichtigtuerei erleben. Doch die Würfel fallen erfahrungsgemäss erst in den letzten Tagen und Stunden vor den Bundesratswahlen.
Im Zentrum stehen die Fragen: Wollen wir eine Konkordanzregierung? Und was heisst Konkordanz eigentlich? Jeder definiert die Konkordanz nach seinen eigenen Interessen.
Konkordanzregierung heisst, dass zwei Bedingungen erfüllt sein müssen: Erstens müssen die politischen Kräfte im Lande nicht aufs Prozent genau, aber einigermassen nach ihrer Wählerstärke im Bundesrat vertreten sein; so wünscht es auch die Bevölkerung. Und zweitens, ebenso wichtig, im Bundesrat braucht es konkordanzfähige Persönlichkeiten, die charakterlich in der Lage sind, die Scharnierfunktion zwischen ihrer Partei und dem Regierungskollegium auszuüben. Nur so funktioniert eine Mehrparteienregierung. Im Bundesrat läuft es besser und effizienter, seit die schwierigen Charaktere Blocher, Couchepin und Merz ausgeschieden sind – und Micheline Calmy-Rey nach anfänglichen Solotänzen das Kollegialprinzip ebenfalls verinnerlicht hat.
In der kommenden Legislatur darf man der SVP mit ihren 26,6 Prozent Wähleranteil mit Rücksicht auf die Konkordanz den zweiten Bundesratssitz nicht vorenthalten. Dagegen hat der Freisinn mit 15,1 Prozent Stimmenanteil ganz klar keinen Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Einer von zwei FDP-Bundesräten ist auch deshalb verzichtbar, weil die vier freisinnigen Bundesräte der letzten vier Jahre, die früheren und die jetzigen, kaum hervorragende Leistungen gezeigt haben. Ein Siebtel Wähleranteil entspricht rechnerisch rund 14 Prozent; es wäre eine klare Missachtung aller Regeln von Fairness und Konkordanz, der FDP mit ihren 15 Prozent zwei und der SVP mit 26 Prozent nur einen Sitz zu gewähren Viele haben eine verständliche Mühe, der SVP einen zweiten Sitz zuzugestehen. Hier müssen Demokraten halt Kompromissbereitschaft zeigen. Man kann nicht ein Viertel der Wählerschaft dauernd demütigen und halbwegs ausgrenzen, auch wenn der Führungsklüngel dieser Partei ständig auf Ausgrenzung der anderen spielt und ganz und gar unschweizerisch den «Riss in der helvetischen Seele» (Thomas Widmer) provozierte. Die Konkordanz erträgt diese Demütigung eines so grossen Wählersegments von einem Viertel nicht länger.
Bislang musste Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf als SVP-Vertreterin gelten, sie wurde als solche in die Regierung gewählt. Heute, nach den Wahlen, ist sie eine Vertreterin der BDP. Diese Jungpartei mit 5,4 Prozent hat allein ganz klar keinen Anspruch auf einen Bundesratssitz, obschon wir mit Widmer-Schlumpf erstmals seit langer Zeit eine dossiersichere bürgerliche Finanzministerin haben, die nicht stets nach der Pfeife der Bankenoligarchie tanzt. Und noch etwas: Sie kann Vertrauen in die Regierungstätigkeit aufbauen, was die vier Freisinnigen in der letzten Legislatur nicht geschafft haben.
Doch wenn es gelingt, dass sich CVP, BDP, EVP und allenfalls GLP zu einer Fraktionsgemeinschaft oder einer festen parlamentarischen Mitte-Allianz zusammenraufen, kommt diese Koalition auf 18 bzw. 23 Prozent Wähleranteil. Zwei Sitze für diese immerhin stark gewachsene Mitte- Gruppierung sind gerechtfertigt, sofern sie sich zusammenfindet. Die Verantwortung zur «Rettung» von Widmer-Schlumpf liegt ganz klar bei den Parteileitungen von CVP und BDP.
Die SP hat als zweitgrösste Partei ebenfalls ein Anrecht auf zwei Bundesratssitze, knapper zwar als früher, da sie mit ihren nur noch 18,7 Wählerprozenten bedenklich nahe an den historischen Tiefstpunkt seit Einführung des Proporzes herangekommen ist (seit 1919 hatte sie nur einmal ein Tief von 18,4 Prozent erreicht). Aber sie repräsentiert immerhin das breite rot-grüne Lager mit rund 27 Prozent, in welchem der kleinere Partner, die Grüne Partei, eingebrochen ist.
Was die Konkordanzfähigkeit der Kandidaten anbelangt, darf sich das neue Parlament nicht mehr durch die SVP erpressen lassen. Der autoritäre Führungsklüngel der Partei wird alle ihm nicht passenden SVP-Kandidaten unter Druck setzen, ihnen eine schriftliche Verzichtserklärung aufnötigen und ihnen mit dem Ausschluss drohen. Die SVP hat nach der Blocher-Abwahl in ihren Statuten einen Paragrafen festgeschrieben, der verlangt, dass jedes SVP-Mitglied, das sich ohne offiziellen Vorschlag durch die SVP-Fraktion in den Bundesrat wählen lässt, sofort aus der Partei auszuschliessen sei. Dieser Racheparagraf lehnt sich eng an die langjährige Parteiausschlusspraxis der Kommunistischen Partei der Sowjetunion KPdSU an.
Die andern Parteien dürfen diesen unschweizerischen Zwangsparagrafen nicht akzeptieren; die SVP-Führung muss darauf verzichten. Es geht nicht an, dass ein kleiner Führungsklüngel, der offensichtlich die ganze SVP-Fraktion instrumentalisiert, ein ihr höriges Mitglied als Befehlsempfänger in die Landesregierung abdelegieren kann. Drei Viertel des Parlaments werden durch diesen konkordanzwidrigen Racheparagrafen erpresst. Wahlbehörde ist allein die Bundesversammlung. Und jede Bundesratspartei hatte in ihrer Geschichte schon erleben müssen, wie die verfassungsmässige Wahlversammlung ihren offiziellen Wahlvorschlag nicht befolgte.
Die Wiederherstellung der Konkordanz im Bundesrat mit konkordanzfähigen Kollegiumsmitgliedern wird das Vertrauen im Volk erhöhen und die Regierung gegenüber dem unberechenbarer gewordenen Parlament stärken. Die Frage, ob zwei oder drei Welsche im Bundesrat sitzen, ist nebensächlich. Auch die Politologenforderung nach einer verbindlichen Koalitionsabsprache unter den Parteien vor den Bundesratswahlen ist ein Wunschtraum. Jetzt müssen der Konkordanz zuliebe halt alle in allen Lagern über ihren Schatten springen. Denn Konkordanz und politische Stabilität sind nicht gratis zu haben.

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