Die Aufwertung und Anerkennung der höheren Berufsbildung ist überfällig

Hochschulen und Fachhochschulen wehren sich gegen eine Aufwertung der Titel in der höheren Berufsbildung. Die Anerkennung der höheren Berufsbildung wird mit dem technologischen Wandel aber zur Schicksalsfrage für das ganze Berufsbildungssystem.                                                                                                         

Gastbeitrag von Rudolf Strahm.  In Neue Zürcher Zeitung. Vom 9. Juli 2021                                

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Nun holt sie uns wieder ein, die Frage der Titelanerkennung bei der höheren Berufsbildung. Diese gehört im schweizerischen Bildungssystem zur Tertiärstufe. Seit zehn Jahren ist der Entscheid hängig. Nach der Einführung des Titels «Bachelor Professional» in Deutschland muss sich der Bundesrat wegen der internationalen Berufsvergleiche erneut mit der Titeläquivalenz und der Aufwertung der höheren Berufsbildung befassen. Die Forderung des Gewerbes und der Berufsbildungsszene nach Zulassung des Titels «Professional Bachelor» für diese Bildungsstufe ist wieder aktuell.

Wirrwarr der Titelbezeichnungen

Worum geht es? Die höhere Berufsbildung ist zwar mit 27 600 Abschlüssen (2019) zahlenmässig die bedeutendste Einzelkategorie bei den Tertiärbildungen in unserem Bildungssystem. Für die Technologiediffusion in der KMU-Wirtschaft ist sie das wichtigste Bildungsvehikel. Aber wer kennt sie schon? Sie wird verkannt und nicht angemessen eingeschätzt.

Der Hauptgrund für die mangelnde Wertschätzung sind der Wirrwarr der Titelbezeichnungen und die fehlende Klarheit in der Einordnung. Während in der beruflichen Grundbildung (Berufslehre) heute die Abschlüsse EBA, EFZ und BM gut eingeführt und bekannt sind und auf der Hochschulstufe die Titel Bachelor, Master und Doktorat eine gesellschaftliche Reputation geniessen, wissen die meisten Akademiker, Lehrer und Publizisten nicht, wie sie die höhere Berufsbildung einordnen sollen.

Zu dieser Tertiärweiterbildung nach der Berufslehre EFZ gehören 430 verschiedene formale Abschlüsse in drei Stufen: nämlich der eidgenössische Fachausweis nach der Berufsprüfung (BP), das eidgenössische Diplom (früher auch Meisterdiplom) nach der höheren Fachprüfung (HFP) sowie das Diplom der höheren Fachschule (HF), die fast regelmässig mit der Fachhochschule (FH) verwechselt wird.

Jeder der 430 Abschlüsse hat eine eigene Berufsbezeichnung. Es fehlt ein übergeordneter Titel. Dadurch fehlt die gesellschaftliche Anerkennung, wodurch das duale Berufsbildungssystem zunehmend benachteiligt ist.

Ich bin seit über zwei Jahrzehnten bei der Ausbildung von Berufs- und Laufbahnberatern an den Universitäten Bern und Freiburg tätig und beurteile die gesellschaftliche Reputation der Berufsabschlüsse aus der Optik von Jugendlichen und Eltern bei der Berufswahl. Von Jahr zu Jahr wird die Titelbezeichnung bei den Berufen entscheidender. Jugendliche wollen wissen, was aus ihnen wird. Und ihre Eltern, die das durchlässige Bildungssystem oft nicht kennen, fragen nach der möglichen Berufskarriere. Die Titel und die Reputation der Ausbildungsgänge sind häufig matchentscheidend für die Wahl zwischen Lehre und Gymnasium.

Unbrauchbare Behelfslösung

In der KMU-Wirtschaft sind die Absolventen der höheren Berufsbildung die tragenden mittleren Kader, die Teamchefs und Techniker. Bei der Diffusion neuer Technologien in der KMU-Szene (die 99 Prozent aller Unternehmen umfasst) sind diese fachlichen Weiterbildungen extrem innovationsrelevant, etwa in der Energietechnologie oder im KV-Bereich. Denn die höhere Berufsbildung ist berufsbegleitend auch für 25-, 30- oder 40-jährige Berufsfachkräfte möglich.

Besonders prekär ist die heutige verwirrende Berufsterminologie der höheren Berufsbildung bei internationalen Berufen und Branchen. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat bisher den Titel des Professional Bachelor hintertrieben und sich mit der selbsterfundenen englischen Ersatztitelbezeichnung Advanced Federal Diploma of Higher Education total verrannt. Niemand hat diesen abwertenden Titel übernommen.

Wir erleben die geradezu absurde Situation, dass sich schweizerische Bildungsstätten und Branchen mit geliehenen internationalen Titeln behelfen müssen. Die Schweizerische Textilfachschule, welche bei uns hochqualifizierte diplomierte Techniker HF in Textil ausbildet, kooperiert jetzt mit der University of West London, die ihren HF-Abgängern mit einem bescheidenen berufsbegleitenden Zusatz einen Bachelor-Titel verleiht. Oder verschiedene Hotelfachschulen, die auf höchstem Niveau Berufslehrabsolventen zum diplomierten Hôtelier-Restaurateur weiterbilden, müssen mit einer Fachhochschule oder einer ausländischen Universität zusammenarbeiten, die dann einen international eingeführten Bachelor-Titel verleihen.

Für die Titeläquivalenz spricht auch die systematische Einstufung der Bildungsabschlüsse im Nationalen Qualifikationsrahmen (NQR). Im akademischen Bereich bedeutet die NQR-Stufe 6 den Bachelor, Stufe 7 den Master und Stufe 8 das Doktorat. Nun zeigte sich, dass die meisten Absolventen der höheren Fachschule im NQR auf Stufe 6, einige sogar auf Stufe 7 eingereiht sind. Für diplomierte Treuhandexperten oder für die diplomierte Expertin in Rechnungslegung und Controlling gilt sogar die Stufe 8. Dennoch erleben sie, dass ihnen in einer multinationalen Firma ein 23-jähriger ausländischer Bachelor-Inhaber mit weniger Kompetenzen, aber akademischem Titel vor die Nase gesetzt wird.

Bisher hatten sich die Hochschulen, namentlich aber die Vereinigung der Fachhochschulabsolventen, aus rein standespolitischem Interesse gegen eine Aufwertung der Titel ihrer Kollegen gewehrt. Nachdem Deutschland den Bachelor Professional für die höhere Berufsbildung eingeführt hat, dürfen standespolitische Widerstände keinen Grund mehr gegen die Anerkennung des schweizerischen Professional Bachelor darstellen. Denn die Aufwertung und Anerkennung der höheren Berufsbildung wird mit dem raschen technologischen Wandel zusehends zur Schicksalsfrage für das ganze Berufsbildungssystem überhaupt.

Rudolf Strahm   war Nationalrat und eidgenössischer Preisüberwacher, später Präsident des Schweizerischen Verbands für  Weiterbildung (SVEB). Er wirkt in der Ausbildung von Berufs- und Laufbahnberatern und –beraterinnen an den Universitäten Bern und Freiburg.

www.rudolfstrahm.ch

Publiziert in Neue Zürcher Zeitung vom 9. 7. 2021