Der Staat leidet an finanzieller Osteoporose

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 4. März 2014

Fast alle Schweizer Städte und eine Mehrheit der Kantone mussten für 2014 ein Defizit budgetieren. Und fast alle kürzen jetzt bei Schulen, Spitälern und Polizei. Auch wenn die Finanzchefs chronisch zu pessimistischen Budgets neigen, um im Jahr darauf stolz bessere Abschlüsse zu präsentieren, muss man sich fragen: Woher kommt dieser Finanztrend ins Negative? Wir durchleben ja keine Wirtschaftskrise. Und dennoch leiden die staatlichen Haushalte von Bund, Kantonen und Gemeinden an einer finanziellen Osteoporose

Osteoporose oder Knochenschwund ist eine versteckte, langsame Skelettschwächung. Kurzfristig kann sie verdrängt werden; aber längerfristig zerstört sie unwiederbringlich Substanz und Körperkraft.

In der Schweiz sind wir strukturell mit zwei langfristigen, unterschwelligen Trends konfrontiert: Erstens geht die Unternehmensbesteuerung aufgrund immer neuer Steuererleichterungen zurück; zweitens nehmen die regionalen Finanzkraftunterschiede zu, die der Steuerwettbewerb unter den Kantonen vor allem bei der Unternehmensbesteuerung schleichend erzeugt.

Die Statistik der Eidgenössischen Finanzverwaltung zeigt folgendes Bild: Von allen direkten, indirekten und Sondersteuern von Bund, Kantonen und Gemeinden (ohne die Lohnprozentabgaben) zahlen die privaten Haushalte 75 Prozent, alle juristischen Personen zusammen nur 25 Prozent. Drei von vier Staatsfranken kommen also von natürlichen Personen, vor allem von Mittelschichthaushalten. Alle Unternehmen tragen nur ein schwankendes und wankendes Viertel zum Funktionieren unseres Staatswesens bei.

Die Besteuerungslücken für natürliche Personen sind in den letzten Jahren zunehmend geschlossen worden. Eine Ausnahme ist die stossende, ja skandalöse Pauschalsteuer für ausländische Millionäre und Milliardäre. Für die Unternehmen sind derweil neue legale Schlupflöcher und Steuerumgehungsmöglichkeiten geschaffen worden. Bereits die erste Unternehmenssteuerreform entlastete die Aktiengesellschaften. Die Unternehmenssteuerreform II von Bundesrat Hans-Rudolf Merz riss Milliardenlöcher in die kantonalen und städtischen Finanzhaushalte.

Der weltgrösste Rohstoffkonzern Glencore Xstrata in Zug zahlt auf die nächsten 15 Milliarden Dollar an Gewinn keine Steuern, weil er die Kapitaleinlagen in Abzug bringen kann. Die Grossbanken UBS und Credit Suisse werden bis mindestens 2017 keine Gewinnsteuern abliefern, weil sie ihren Verlustvortrag aus der Finanzkrise vom Gewinn abziehen können. Die Banken insgesamt, die mehrere Milliarden an Steuerbussen an die USA, Deutschland und multilaterale Behörden zahlen müssen, verfolgen unter Einspannung der teuersten Anwaltskanzleien das Ziel, diese Bussengelder in der Schweiz steuerlich in Abzug zu bringen.

Nun kommt eine neue, riesige Kiste mit der Unternehmenssteuerreform III auf uns zu. Sie wird durch weitere Steuersenkungen für Unternehmen nochmals Steuerausfälle von 1 bis 3 Milliarden Franken jährlich bringen

Handlungsbedarf besteht wegen jener Kantone, die mit ihren Steuerprivilegien für ausländische Holding- und Sitzgesellschaften eine regelrechte Monacoisierung betrieben haben. Die Erträge, die diese Sitzgesellschaften im Ausland erwirtschaften, besteuern diese viel tiefer als die in der Schweiz anfallenden Erträge oder gar nicht. Die 500 in unserem Land ansässigen Rohstofffirmen, die fast alle Handelsumsätze im Ausland erzielen, zahlen in Genf, der Waadt oder Zug kaum Steuern. Insgesamt profitieren rund 20 000 ausländische Sitzgesellschaften in der Schweiz von solchen und ähnlichen Steuerprivilegien.

Mit einigem Recht drängt die EU seit sieben Jahren auf eine Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Erträge bei der Holdingbesteuerung. Steuerumgehung via die Schweiz wird nicht mehr toleriert. Nun stehen wir vor dem Dilemma: Sollen alle ausländischen Holdinggesellschaften steuerlich auf das Niveau hiesiger Unternehmen angehoben werden? Mit der möglichen Folge, dass einige samt ihrem ausländischen Personal das Land verlassen. Oder sollen umgekehrt die Steuern für alle einheimischen Unternehmen auf das tiefere Belastungsniveau für ausländische Domizilgesellschaften gesenkt werden? Mit der Folge, dass Steuerausfälle in Milliardenhöhe anfallen. Davon wären vor allem die Städte betroffen. Genf, das zusammen mit der Waadt bisher alle möglichen Steuerprivilegierungen ausländischer Domizilgesellschaften praktiziert hat, rechnet mit Steuerausfällen von 450 Millionen Franken jährlich. Kurz: Die Genferseeregion leidet unter der Entwicklung zum Steuer- und Wohnsitz-Monaco der Superreichen

Die reichen Kantone drohen nun, bei Steuerausfällen weniger in den interkantonalen Finanzausgleich abzuliefern. Als Vorkämpfer dieses freundeidgenössischen Egoismus profiliert sich der Präsident der Finanzdirektorenkonferenz aus Zug. Der Tenor der Unternehmen lautet: Die Ausfälle von 3 Milliarden soll der Bund decken, etwa indem er die Mehrwertsteuer erhöht. Diese belastet ausschliesslich die Konsumenten. Die eigensinnige Basler Finanzdirektorin wiederum fordert ein neues Steuerschlupfloch in Form einer sogenannten Lizenzbox: einer Finanztochter, in welche die Konzerne die Patent- und Lizenzgebühren aus ihren Niederlassungen aus aller Welt steuerbefreit oder -privilegiert überweisen können. Eine neue Schlaumeierlösung, die international sicher nicht lange hält.

Ich bin der Meinung: Die Schweiz muss der EU in der Steuerfrage entgegenkommen und Inland- und Auslanderträge gleich belasten. Im Inland muss sie die selbst verursachten Holdingsteuerprobleme verlustneutral lösen, indem ein neuer Steuersatz für alle Firmen auf einem Mindeststeuerniveau so festgesetzt wird, dass per saldo keine Ausfälle entstehen oder die Steuerausfälle durch eine neue Besteuerung (etwa der Beteiligungsgewinne) kompensiert werden.

Über die neue Unternehmenssteuerreform III wird das Volk entscheiden. Ohne volle Kompensation der Steuerverluste dürfte sie keine Chance haben.

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