Der blinde Swissness-Glaube

Kolumne im Tages-Anzeiger vom Dienstag, 6. März 2012

Gesunde, natürliche Nahrungsmittel von einem gesunden Bauernstand: Wer möchte das nicht? Wer möchte, wenn er vor dem Ladenregal steht, nicht Herkunft und Produktionsmethode von Gemüse und Früchten, Fleisch und Fisch kennen?

Dabei sind wir fest überzeugt, Schweizer Ware sei besser. So wie die Japaner dem Glauben huldigen, Reis aus heiliger japanischer Erde sei hochwertiger und gesünder. Tief im Unterbewusstsein wirkt offenbar der Swissness-Mythos.

Seit zwei Jahren gilt inzwischen das Cassis-de-Dijon-Prinzip, wonach Produkte nach EU-Normen in der Schweiz hergestellt oder eingeführt werden dürfen – mit hohen Schutzzöllen zugunsten unserer Landwirtschaft verteuert. Das ist insofern unbedenklich, als der Konsumentenschutz in der Europäischen Union strenger ist als bei uns.

Schlagrahm wird in der Schweiz nur mit einem überhöhten Milchfettanteil von 35 % hergestellt und verkauft. In der EU gilt die Limite von 30 %. Der hohe Fettanteil dient der heimischen Milchlobby dazu, überschüssiges Milchfett los zu werden. Dieses stammt aus der Intensivproduktion mit immer fetteren Kühen und immer mehr Kraftfutter. Die Ernährungswissenschaft drängt derweil darauf, die tierischen Fette in der Nahrung zu reduzieren. Milchfett zum Beispiel hat laut der Schweizerischen Vereinigung für Ernährung einen höheren Anteil an problematischem Cholesterin als Schweineschmalz. Denner lässt in der Schweiz nun Schlagrahm mit 30 % statt 35 % Milch fettanteil herstellen. Das ist aufgrund des Cassis-de-Dijon- Prinzips erlaubt und der Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten zuträglich.

Die Bauernlobby reagierte auf die Entwicklung jedoch mit einem Trommelfeuer der Kritik: Angeprangert wurde die angeblich «schlechte Qualität» von Schlagrahm nach Euronorm, von «wässrigem Schinken», von verdünntem Süssmost («Schorle») und generell von Nahrungsmitteln nach EU-Richtlinien. Der freisinnige Direktor des Bauernverbands, Jacques Bourgeois, lancierte im Parlament eine Initiative, welche die sofortige Aufhebung des Cassis-de-Dijon-Prinzips bei Nahrungsmitteln verlangt. Die Wirtschaftskommissionen (WAK) von National- und Ständerat unterstützten das protektionistische Zurückbuchstabieren mehrheitlich – dank der Stimmen der Bauervertreter, des Emmi-Verwaltungsratspräsidenten, der Linken aus der Romandie und der Freisinnigen, die uns sonst immer Wettbewerb predigen. Es herrscht ein protektionistischer Zeitgeist: Schweizerisch ist gut, ausländisch minderwertig – und die Konsumenten sollen gefälligst essen, was ihnen das hiesige Agrobusiness auf den Tisch bringt.

Schweizer Treibhaus-Gemüse wird als besser angepriesen, obwohl ein Kilo Tomaten, Gurken oder Peperoni aus Schweizer Treibhäusern drei- bis viermal mehr nichterneuerbare Energie benötigt, als jene aus Südspanien und Marokko, selbst wenn die Transportenergie mitberechnet wird. Die hiesigen Treibhäuser müssen nämlich bis zum Frühsommer intensiv beheizt werden, während in den südeuropäischen das Gemüse ausschliesslich mit Sonnenenergie wächst. Beim saisongerechten Sommergemüse kippt die Energiebilanz dann zugunsten der Schweizer Produkte. Das hat ein ETH-Institut berechnet. Es zeigt: Eine naturwissenschaftliche Überprüfung tut Not – sonst verkommt die Swissness-Gläubigkeit zum Marketinginstrument und zum Selbstbetrug.

Etwas anders tut sich bereits: Hunderttausende rebelliergen gegen die hohen Preise in aller Stille, indem sie ins benachbarte Ausland zum Einkauf fahren. Bisweilen tun sich mehrere Familie in Wohnblocks dafür zusammen. Aus sozialen Gründen ist das legitim, so viel muss man den Leuten zugestehen. Auf Dauer ist es aber keine Lösung. Letztes Jahr verdreifachte sich der Einkaufstourismus gegenüber 2008 auf schätzungsweise 5 Milliarden Franken. Eine Milliarde wurde allein für Fleischkäufe jenseits der Grenze ausgegeben.

Der Schweizerische Bauernverband ruft derweil nach noch mehr Agrarschutz und noch mehr Produktionssubventionen – und schweigt in allen Landessprachen zum wachsenden Einkaufstourismus. Dabei hätten bei einer schrittweisen Marktöff nung auch die schweizerischen Qualitätsprodukte mit Bio-, Alpen- oder Natur-Label im Export durchaus Chancen bei mindestens einem Zehntel der 500 Millionen europäischen Konsumenten: der kaufkräftigen und umweltbewussten Mittelschicht. Diese lukrative Marktnische besetzen jetzt die Österreicher mit ihren Alpenprodukten. Statt mit allmählicher Öff nung des Marktes reagiert die Schweiz mit noch mehr Abschottung.

Zu den von Bundesrat Johann Schneider- Ammann angekündigten harten Massnahmen gegen die hohen Importpreise bei den Konsumgütern im Non-Food-Bereich ist es in Bundesbern still geworden. An seine hochtrabenden Ankündigungen vom letzten August mag er sich nicht mehr erinnern. Die Kartellgesetzrevision, die er kürzlich vorgestellt hat, bringt gegen die überhöhten Importpreise kaum etwas. Sie ist so kompliziert und weit ausgreifend, dass sie – wenn sie den parlamentarischen Prozess überhaupt übersteht – frühestens ab 2016 wirksam wird. Die einzig direkt wirksame Massnahme gegen überteuerte Importe stammt von der Konsumentenschützerin Prisca Birrer-Heimo. Ihre Motion wurde im letzten Dezember vom Nationalrat mit 113 zu 74 Stimmen zwar haushoch unterstützt. Doch der schlecht beratene Wirtschaftsminister will davon nichts wissen.

Der nächste Schritt auf dem protektionistischen Weg steht bevor: Man will den Einkaufstourismus grenzpolizeilich unterbinden. Die neue Konzernchef des Grossverteilers Coop, Joos Sutter, der eine Hochpreisstrategie fährt, hat sich bei der für den Zoll zuständigen Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf dafür stark gemacht, die Freigrenze für Auslandeinkäufe rasch von 300 auf 100 Franken zu senken. Und der freisinnige Nationalrat Peter Malama hilft dabei in echt «liberaler» Haltung als Wasserträger dieser konsumentenfeindlichen Einzäunungsstrategie.

Die letzte Konsequenz dieser Hochpreis-Sackgasse: Weil man mit Rücksicht auf Interessenlobbys und aus mangelnder Courage nichts gegen die hohen Importpreise unternehmen will, bleibt nur noch, die Konsumenten innerhalb der Landesgrenzen einzusperren. Fast wie früher, im und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.