Das Roboter-Syndrom

Kolumne im Tages-Anzeiger/Bund vom Dienstag, 10. Mai 2016

Ein neues Gespenst geht um in der globalisierten Arbeitswelt: der Roboter. Er nimmt den Men­schen die Arbeit weg, drängt sie in den Müssig­gang und führt zu menschenleeren Büros und gespenstisch leeren Fabrikhallen: Die digitale Revolution frisst ihre Menschen.

Solche Existenzängste vor dem Verschwinden der Arbeit werden von profilierungstüchtigen amerikanischen Professoren und Buchschreibern geschürt. Derzeit auch von den Initianten für ein bedingungsloses Grundeinkommen, wobei sie ihre lebenslängliche, bedingungslose Staatsrente ab 18 Jahren für alle gleich als die Rettung anpreisen.

Die Weltgeschichte kennt unzählige Episoden von Panik vor neuen Technologien. Beim Brand von Uster 1832 protestierten die Zürcher Handweber gegen den mechanischen Webstuhl und die Spinnmaschine. In den 1980er-Jahren protestierten Arbeitnehmer gegen die aufkom­menden Computer, weil sie vermeintlich die Menschen in den Büros überflüssig machen würden. Das Buch «Das Ende der Arbeit» des amerikanischen Publizisten Jeremy Rifkin war 1995 ein Weltbestseller. Heute ist das Werk vergessen.

Derzeit werden technologische Schreckensvisionen einer digitalisierten Roboter-Wirtschaft mit menschenleeren Fabriken prophezeit. Die Hälfte der Büroarbeitsplätze würde in den nächsten zehn Jahren verschwinden, wird behauptet. Mit neuen Techniken wie «Industrie 4.0», «3-D-Drucker», «Cloud Computing» oder «Internet der Dinge» wird ein Heer von Arbeitslosen vorausgesagt. Dieser Strukturwandel der digitalen Revolution entwirft eine Horrorvision, eine Art Roboter-Syndrom.

Die Leser sollten die Verdrängungsthese einmal bei sich selbst überprüfen: Jedes Jahr wird ja in den Personalcomputern die Geschwindigkeit verdoppelt und die Speicherkapazität verdreifacht, und dies seit den 1990ern. Benötigen Sie etwa weniger Zeit für Ihre PC-Arbeiten? Mitnichten! Denn die wachsende Computereffizienz schafft ständig neue Internetprodukte mit neuen Kommunikations-und Datenspeichersystemen.

Die Spitäler setzen immer mehr Automaten, Sensoren und intelligente Messgeräte ein. Man prophezeit schon den vollautomatischen Pflegeroboter am Krankenbett. Doch in der Realität konstatieren wir, allen Automaten zum Trotz, immer mehr Personalaufwand und Pflegebedarf. Das Spitalpersonal wird nicht ersetzt, sondern dessen Rollen und Funktionen werden anders, anspruchsvoller, wissensbasier­ter. Kein Roboter kann zwischenmenschliche Empathie, Kommunikation und Zuwendung zum Pflegebedürftigen ersetzen.

Die Digitalisierung ist in der Industrie in der Schweiz, in Deutschland, in Schweden längst im Gange. Industrie 4.0 bedeutet, dass die Automaten und Roboter digitalisiert selbststeu­ernd arbeiten. Mit dem Internet der Dinge werden ihre Automatenhirne interaktiv vernetzt. Man spricht von einer «Soft Factory», einer «intelligenten Fabrik», und befürchtet menschen­leere Fabriken; eben ein Roboter-Syndrom.

Industrie 4.0 braucht mehr Fachkräfte

Drohender Arbeitsplatzabbau ist die einseitige Sicht der Managementberater. Wer aber konstru­iert den Roboter? Wer programmiert, wartet, repariert und adaptiert ihn? Es sind weiterhin die Konstrukteure, Polymechaniker und weiteren Fachkräfte, die von der Pike auf das Handwerk der Präzisionsarbeit beherrschen und nun zusätz­lich erworbene Digitalkompetenzen in Informa­tionstechnik anwenden! Kein Wunder, dass die Amerikaner, die kein solides duales Berufsbil­dungssystem kennen, die digitale Revolution der Industrie fürchten. Fast wöchentlich pilgern derzeit amerikanische Delegationen in die Schweiz oder nach Deutschland, um unser duales Berufsbildungssystem zu studieren.

Die Industrie 4.0 wird zwar enorm effizienter produzieren und die Wertschöpfungskette massiv verändern, aber sie erfordert bei uns per saldo nicht weniger, sondern mehr Fachkräfte: Je automatischer eine Maschine läuft, desto komplexer und zuverlässiger muss sie gebaut werden. Wenn es dereinst führerlose Lastautos oder Automobile geben sollte, müssen sie mechanisch viel sicherer, aufwendiger und zuver­lässiger konstruiert sein. Es braucht die Präzision des Maschinenbaus, verknüpft mit der Logik der Informationstechnologie.

Oder die Büroarbeit: Die «intelligente» Administration kann zwar repetitive Verwal­tungsarbeiten durch Algorithmen automatisie­ren. Aber das Cloud Computing etwa – die Datenverarbeitung und Speicherung in externen Megacomputern – wird eine exponentielle Zunahme an Security-Fachleuten erfordern, also Informatikspezialisten, welche die Datensicher­heit und Verschlüsselung laufend perfektionie­ren und vor Angriffen schützen. Bis in zehn Jahren benötigt die Wirtschaft ein Vielfaches von heute an Personal und Kapital für die Security.

Berufliche Weiterbildung als Schlüssel

Wir wissen heute nicht, wie die Jobs in Zukunft aussehen werden. Aber unsere Antwort auf die Digitalisierung heisst nicht, wie in den USA, Hire and Fire mit Verdrängung in die Arbeitslosigkeit und ins Prekariat, sondern ständige Weiterqualifi­zierung der Beschäftigten. Die berufliche Weiter­bildung ist die Schlüsselantwort auf die digitale Revolution!

In der Schweiz sind es die zahlreichen Weiterbildungen der höheren Berufsbildung. Über 20 verschiedene Weiterbildungslehrgänge in Digitalanwendung gibt es schon im Elektro-und Maschinentechnikbereich, weitere 20 im kaufmännischen Bereich. Auch mit 25, 35 oder 45 Jahren können sich Fachleute berufsbeglei­tend in höheren Fachschulen oder in Vorberei­tungskursen für die eidgenössischen Berufsprü­fungen und höheren Fachprüfungen spezialisie­ren. Über die höhere Berufsbildung und Fachhochschulen läuft heute die Diffusion neuer wissensbasierter Technologien in die Wirtschaft.

Das Gottlieb-Duttweiler-Institut Rüschlikon lud letzte Woche ein Dutzend amerikanischer Professoren und Experten zu einer einseitigen Promotionstagung für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Für keinen der Referen­ten waren die Bildungsanforderungen der digitalen Revolution ein Thema! Formale berufliche Weiterbildung ist in den USA ein No-go.

Während die Industriegewerkschaft Unia etwas hilflos vom Bundesrat bloss einen Bericht zur digitalen Revolution anfordert, bietet der Verband der Angestellten Schweiz bereits selber Kurse mit individueller Beratung über die Weiterbildungsmöglichkeiten zu Industrie 4.0 an. Die adäquate Antwort auf die digitale Revolution heisst berufliche Weiterbildung, sie heisst Neues hinzulernen, lernen und nochmals lernen. Dadurch verdrängt die vierte industrielle Revolution die Menschen nicht aus der Arbeit, sondern gibt ihnen neue Rollen und Funktionen in der Arbeit.

Wirtschaftspolitik heisst heute Bildungspolitik – und Bildungspolitik ist auch Wirtschaftspolitik. Bei den Chefs der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ist dieses Bewusstsein vorhanden, bei den betriebsfernen, Boni-getriebenen Topmanagern der multinationalen Konzerne jedoch viel zu wenig.

 

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