Das Problem mit dem Mindestlohn und der Personenfreizügigkeit

Interview Rudolf Strahm  mit „Schweiz am Sonntag“ vom 15. Dez. 2013.

 

Herr Strahm, liebäugeln Sie ernsthaft damit, wie in der «Tages-Anzeiger»-Kolumne angetönt, der SVP-Masseneinwanderungsinitiative zuzustimmen?

Rudolf Strahm: Haben Sie die Kolumne so gelesen? Ich sagte: Es braucht, bei aller Distanz zur SVP-Einwanderungspolitik, ein Druckmittel des Volkes, um Bundesbern zu einem längerfristigen Einwanderungskonzept zu veranlassen und weitergehende flankierende Lohnschutz-Massnahmen zur Schadensminderung durch die Personenfreizügigkeit zu erzwingen. Heute ist der Wille im Bundesrat dazu nicht vorhanden. Man wählt den bequemsten Weg, akzeptiert die Ansprüche Brüssels und vertraut im weiteren auf die Abstimmungsmillionen von Economiesuisse.

 

Bürgerliche sagen, Sie wollten einfach dem Mindestlohn zum Durchbruch verhelfen. Alles nur Taktik?

Ich mache nicht in Taktik, sondern benenne es offen: Auf die Dauer kann es keinen freien Personenverkehr ohne einen gesetzlichen Mindestlohn geben, der auch in jenen Branchen gilt, die keinen Gesamtarbeitsvertrag kennen, so zum Beispiel in der Landwirtschaft, in der Kebab-Gastronomie, in der Privatpflege und Hauswirtschaft. Auf die Dauer ist ein freies Migrationsmodell innerhalb Europas schlicht undenkbar, wenn wie heute zwischen den reichen und den armen Gebieten eine Lohndifferenz von 10 zu 1 gilt und ein Gefälle in der Arbeitslosenquote von ebenfalls 10 zu 1.

 

Politisch wird es die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften schwer haben. Muss nicht so oder so bei der Zuwanderung angesetzt werden?

Auch  mit  einem gesetzlichen Mindestlohn von sagen wir 22 Franken pro Stunde, kann die Tieflohn-Zuwanderung begrenzt werden. Denn bei uns werden jene Billiglohnarbeiter, die deutlich unter diesem Lohn entschädigt werden, nicht im Inland, sondern in Portugal, Ungarn, bald auch in Rumänien und Bulgarien rekrutiert. Gesetzlich festgelegte Mindestlöhne sind eine Massnahme, die an sich EU-konform ist. Selbst in Deutschland haben die Bürgerlichen eingesehen, dass angesichts der dortigen Tiefstlohnzuwanderung aus Osteuropa, vor allem aus Polen, eine Mindestlohnlimite unausweichlich ist.

 

Linke kritisieren, Sie würden gefährlich mit dem Feuer spielen. Zündeln Sie?

Es ist nicht meine Art, zu provozieren. Ich sage bloss, was man in der sozialdemokratischen Wählerschaft weitherum denkt. Die SP ist beim Thema Migration weit, weit von den Bürgersorgen entfernt. Die Personenfreizügigkeit ist im Grunde ein neoliberales Projekt: Der «Produktionsfaktor Arbeit» soll in ganz Europa mobil gemacht werden. Und der soziale Ausgleich innerhalb des Binnenmarkts soll so ablaufen, dass man Arbeitnehmende wie Güterwagen hin- und herschiebt. Der Binnenmarkt mit den «vier Freiheiten» soll den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und eben auch der Arbeitskraft vollständig liberalisieren. Dabei werden alle kulturellen, bildungspolitischen und sozialen Probleme der Arbeitskräftemobilität einfach ignoriert. Das ist ein menschenverachtendes Konzept, was viele idealistische Linke lange nicht wahrhaben wollten.

 

Warum ist die Personenfreizügigkeit Teil der reinen linken Lehre geworden?

Die Linke war immer internationalistisch und multikulturell gesinnt. Auch ich bin ein ehemaliger Dritte-Welt-Engagierter und bekenne mich dazu. Dieses Ideal wurde reflexartig und unreflektiert auch auf die EU-Binnenmarktstrategie übertragen. In andern Ländern, wie etwa in Frankreich, ist die gewerkschaftliche Linke längst auf die Fundamentalkritik am freien Arbeitsmarktverkehr umgeschwenkt. Die hiesige Linke hat diesen Diskurs verschlafen. Dabei spielte gewiss auch der Reflex eine Rolle: Kommt eine Kritik von Blocher, flüchtet man ins Gegenteil.

 

Könnte ein Ja zur SVP-Initiative ein nötiger Weckruf für den Bundesrat sein?

Ich sage zu jedem Bundesrat: Ihr braucht mal eine Niederlage, sonst kommt es nicht zu mehr sozialem, bildungspolitischen und wohnbaupolitischem Flankenschutz für die hiesige Wohnbevölkerung. Die bisherigen flankierenden Massnahmen – sie wurden in den 1990er Jahren erst nach dem EWR-Nein beschlossen – sind nämlich nur in jenen Branchen wirksam, in denen ein Gesamtarbeitsvertrag GAV besteht. Die GAV-Branchen decken nur 45 Prozent aller Arbeitnehmenden ab.

 

Haben Sie die Folgen eines Ja zur Initiative – die drohende Aufkündigung der bilateralen Verträge – eingepreist?

Wer droht mit der Aufkündigung der bilateralen Verträge? Es sind die Europarechtsprofessoren und die Kampagnarden von Economiesuisse. Meine Forderung lautet seit langem, dass die Schweiz ein Zusatzabkommen zur Personenfreizügigkeit mit der EU aushandeln soll, und keinesfalls die bisherigen Abkommen kündet. Und die EU wird diese Abkommen gewiss auch nicht künden; es bräuchte dazu die Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten!  Die neusten Forderungen der EU, die von der Schweiz in Zukunft eine automatische Übernahme des neuen EU-Binnenmarktrechts und die Akzeptierung der EuGH-Schiedsgerichtsbarkeit verlangt, bedeuten nämlich de facto – nicht juristisch – eine materielle Aushebelung der bisherigen Bilateralen I und II. Das weiss man im Bundesbern, nur will man dies aus taktischen Gründen nicht eingestehen.

 

Sind die flankierenden Massnahmen nicht ein sozialpolitischer Gewinn, der ohne Personenfreizügigkeit nie hätte erreicht werden können?

Diese Massnahmen waren für die 1990er Jahre und die Bilateralen I nützlich. Ich war ja einer der ersten, die bereits vor der EWR-Abstimmung 1992 dafür geweibelt hatten – zunächst erfolglos. Diese Lohnschutzmassnahmen wurden dann im Jahr 2000 eingerichtet, aber nur für die Zuwanderung aus Westeuropa und eigentlich nur wirksam für die GAV-Branchen. Heute, 2013, ist die Situation komplett anders: Wir haben eine Tiefstlohnzuwanderung ausgerechnet in den GAV-freien, strukturschwachen Branchen. Wir haben extreme Lohnunterschiede zu Osteuropa. Und wir haben eine Krise mit Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa. Deshalb braucht es jetzt zusätzliche Schutzmassnahmen.

 

Jedes Jahr kommen netto 80 000 Zuwanderer in die Schweiz. Wo liegt für Sie die Grenze, wieviel ist zuviel?

Für mich gibt’s keine objektive Grenze. Aber jede Migrationsperson, die in die Schweiz einwandert und nicht einen Beruf erlernt hat oder noch erlernen will, jede Person, die nicht die örtliche Landessprache erlernt, ist eine Migrationsperson zu viel. Mein Fokus liegt auf der mangelnden Ausbildung und der mangelnden Integration, die letztlich zu einer Zuwanderung ins Sozialsystem führt. Absurd am freien EU-Personenverkehr ist, dass uns Brüssel verbietet, zugewanderte EU-Bürger, die hier bleiben wollen, zum Spracherwerb zu verpflichten, weil dies nach EU-Recht angeblich diskriminierend sein soll.

 

Wie dramatisch ist die Einwanderung ins Schweizer Sozialsystem?

Niemand weiss es genau, weil solche Auswirkungen mit einer zeitlichen Verzögerung eintreten. Gewisse Angaben von Sozialämtern weisen auf eine erhöhte Beanspruchung hin. Mehr Erfahrung hat man bei der Arbeitslosenversicherung: Da gibt es ganz klar und dauernd eine zwei- bis dreimal höhere Beanspruchung durch Migrationspersonen ohne Ausbildung, zum Beispiel eine dreifache Arbeitslosenquote bei Portugiesen. In der Sozialhilfe sind heute 60 Prozent der Empfänger entweder Ausländer oder Eingebürgerte mit Migrationshintergrund. Dies als Folgeeffekte der Rekrutierung Ungelernter in den früheren Jahrzehnten.

 

Bürgerliche sagen, ein Mindestlohn würde den Zuwanderungsdruck verstärken. Wie kontern Sie?

Genau das Gegenteil ist der Fall. Ein Mindestlohn für alle wird nämlich die Tiefstlohn-Rekrutierung der strukturschwachen Branchen bremsen. Denn die ungelernten Tiefstlohn-Zuwanderer werden nicht im Inland, sondern aus den bildungsfernen Schichten Portugals, Ungarns, Siebenbürgens und bald ganz Rumäniens und Bulgariens rekrutiert. Oft gerade auch von den SVP-nahen Branchen wie der Landwirtschaft. Wer aber seiner Putzfrau nicht 22 Franken zahlen kann, soll halt selber putzen!

 

Würde nicht zumindest die Schwarzarbeit zunehmen?

Wenn ein Mindestlohn flächendeckend und für alle gilt, ist er sogar besser durchsetzbar und kontrollierbar, als im heutigen Abgrenzungswirrwarr zwischen den Branchen. Aber eine Kontrolle braucht es in jedem Fall.

 

Interview von Christof Moser, Schweiz am Sonntag.

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