Wo die Bürokratie nützt.

Kolumne im Tagesanzeiger vom 22.09.2015

Ist es wirklich so überflüssig, wenn man weiss, was in den Lebensmitteln drin ist? Über den pauschalen Vorwurf der Regulierungswut.

«Staatliche Bürokratie! Paragrafenflut! Bürokratiemonster! Regulierungskosten!» – Befänden sich die Parteien und Kandidaten nicht im Wahlkampf, wäre solche Polemik gegen die staatliche Verwaltung kaum ein Thema. Doch für die FDP ist das Schlagwort vom Bürokratieabbau, wie sie selber sagt, eines ihrer drei Kernthemen im Wahlkampf. Dies erstaunt, nachdem die Partei für ihre Bürokratieabbauinitiative nicht einmal die nötigen Unterschriften zustande gebracht hatte. Das Thema reisst die Menschen nicht vom Sessel.

Der neuste Bürokratievorwurf trifft das Lebensmittelrecht: Im vergangenen Juni schickte der Bundesrat die Entwürfe für die angepassten Verordnungen zum neuen, vom Parlament beschlossenen Lebensmittelgesetz in die Vernehmlassung. Drei Monate war Funkstille. Erst jetzt, kurz vor den Wahlen, erklingt das orchestrierte Lamento über das «Bürokratiemonster».

Das Paket mit 27 Verordnungen zur Lebensmittelsicherheit ist tatsächlich extrem detailliert. Aber es bringt zu 98 Prozent die Übernahme des EU-Lebensmittelrechts. Dieses ist zwar sehr bürokratisch, aber trotzdem die billigste Lösung. Jede abweichende Regelung würde verteuernde Handelshemmnisse beim Import und Export schaffen.

Jetzt wissen wir, was drin ist

Aufschlussreich ist, dass das ideologisch motivierte Wehklagen des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV) von der Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial) nicht geteilt wird. Im Gegenteil, man ist bei der Nahrungsmittelindustrie – von Details abgesehen – mit der neuen Ordnung zufrieden. Sie beseitigt Handelshemmnisse im Import- und Exportverkehr zwischen der Schweiz und der EU. Sie bringt durch ihren hohen Detaillierungsgrad Rechtssicherheit für die Produzenten. Schliesslich führt die Schweiz genau diejenigen Regeln und Normen ein, die unsere Industrie bei ihren Exporten in die EU sowieso einhalten muss. Die neuen Regeln sind «Sowieso-Regeln».

In Zukunft müssen Nahrungsmittelzusatzstoffe besser deklariert werden. Ist das denn bloss überflüssige Bürokratie? Nicht nur Hausfrauen und -männer, sondern auch Wirte und Küchenchefs wissen oft nicht mehr, was alles an Glutamaten, Emulgatoren, Stabilisatoren, Allergenen und chemischen Farbstoffen der industriellen Nahrung beigemischt wird. Wenn man die Kosten der Allergien, Unverträglichkeiten und Magen-Darm-Probleme aufrechnet, drängt sich eben in einer komplexeren Welt eine komplexere Regulierung und Deklarationspflicht auf.

Nicht nur die Regulierungskosten für die Wirtschaft, auch die Kosten und Schädigungen des Regulierungsverzichts müssten aufgerechnet werden. Die bestellte Regulierungskostenstudie gegen die Lebensmittelverordnung ist deshalb einäugig und unglaubwürdig. Sie beziffert zwar die einmaligen Kosten der Einführung des Lebensmittelrechts für die Wirtschaft auf 270 Millionen Franken (bloss 0,9% des Nahrungsmittelumsatzes) und danach jedes Jahr auf 46 Millionen (oder 0,15%). Aber sie sagt nichts über den Nutzen für die Gesundheit und den Abbau der Handelshemmnisse.

In einem Fall freilich geht die neue Nahrungsmittelverordnung über die Regulierung der EU hinaus, nämlich bei der Fleischdeklaration. Nach den laufenden Skandalen um Pferdefleisch in der Lasagne, Gammelfleisch im Kebab, Chinapoulets in gefälschten Verpackungen hatte das Parlament ausdrücklich eine strengere Herkunfts- und Produktdeklaration gefordert. Gewisse Kreise der Fleischwirtschaft haben noch nicht begriffen, dass die Schweizer Konsumentinnen beim Fleisch extrem strenge Kontrollen einfordern.

Ursache und Wirkung

Es gibt durchaus Kontrollbereiche, die sich noch vereinfachen lassen. Etwa bei der Herkunftsbezeichnung im lokalen Offenverkauf von Restaurants und Bäckereien oder bei der unseligen Swissness-Deklaration, die ja auf Betreiben der Landwirtschaftsprotektionisten eingeführt wird. Die protektionistischste Partei, die am meisten bürokratische Regeln fordert, obwohl sie das den anderen Parteien vorwirft, ist nach dem Rating der Wirtschaftszeitschrift «Bilanz» bekanntlich die SVP.

Zum Beispiel die Bankenregulierung: Der Chef der UBS Schweiz regt sich auf über die Regulierungswut von Bundesbern. Aber ist es nicht gerade die UBS, die mit ihren riskanten Geschäften und tiefen Eigenmitteln Bundesbern zur strengeren Regulierung herausgefordert hatte?

Zum Beispiel die Pharmaregulierung: Basler Pharmabosse klagen über die staatliche Regulierungswut. Aber ist es nicht gerade die Pharmalobby, die durch ihren dominierenden Einfluss in der Heilmittelaufsicht Swissmedic und in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission ständig für sich bürokratische Ausnahmen und eine exklusive Marktabschottung durchsetzt?

Nicht nur die Regulierungskosten, sondern auch die Schäden der Deregulierung zählen.

Die seltsame Rolle des Seco

Eine zwielichtige Rolle bei der Kampagne gegen die staatliche Bürokratie spielt das Seco. In einem «Bericht über die Regulierungskosten» behauptet das staatskritische Bundesamt aufgrund abstruser Annahmen, die Regulierungen kosteten die Wirtschaft zehn Milliarden Franken. Dabei hat sich das Seco mit seinem alljährlichen «Bürokratiemonitoring» und unzähligen Auftragsstudien selber zum Bürokratiemonster innerhalb der Bundesverwaltung aufgebläht.

Die Kosten für die Arbeitssicherheit in der Wirtschaft zum Beispiel beziffert das Seco auf 1,2 Milliarden Franken jährlich. Aber über die eingesparten Unfall- und Invaliditätskosten, wenn weniger Bauarbeiter vom Gerüst fallen und zu Paraplegikern werden oder weniger Mechaniker und Schreiner in eine Fräsmaschine geraten, sagt es nichts.

Die Kosten für Luftreinhaltung, Gewässerschutz und Sonderabfälle beziffert das Seco auf 1,76 Milliarden Franken für die Wirtschaft. Aber über den Nutzen des Umweltschutzes für die Lebensqualität und den Wirtschaftsstandort sagt es nichts.

Die Umtriebskosten der Unternehmen für die AHV-Lohnkostenabrechnungen beziffert das Seco auf 454 Millionen pro Jahr. Aber die 3,9 Milliarden Franken, die jährlich bei den Pensionskassen in der Vermögensverwaltung (also bei Banken, Hedgefonds, Anlagemanagern) und bei der Kassenverwaltung versickern, sagt es nichts. Hinter solchen selektiven Regulierungsfolgen-Abschätzungen steckt vor allem die Staatsfeindlichkeit.

Kritik ja, aber bitte konktret

Manchmal ist ja was dran am Bürokratievorwurf. Aber er kommt zu pauschal, einäugig und ideologisch daher, und deshalb verpufft er meistens. Drei Bedingungen sind nach meiner Erfahrung nötig, um die Regulierung zu optimieren: Erstens, die Kritik muss konkret und im Einzelfall beschreiben, wo das Problem genau liegt, damit die Aufsicht fallspezifisch vereinfacht wird.

Zweitens, die Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) ist nur glaubwürdig, wenn sie den Regulierungskosten stets auch die Kosten und Schädigungen durch Deregulierung gegenüberstellt.

Und drittens muss die Beurteilung von einer neutralen, unabhängigen Agentur und nicht von einem voreingenommenen Bundesamt ausgehen.

Wenn die Wahlen vorbei sind, sollte man die RFA institutionell auf eine neue, glaubwürdige Grundlage stellen. Bevor der nächste Wahlkampf wieder losgeht.

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