Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 27. August 2013
In vereinzelten Branchen fehlen diesen Herbst Lehrlinge. In dieser Situation hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann den Blitzeinfall gehabt, ausländische Jugendliche als Lehrlinge ins Land zu holen. Der europäische Hintergrund: Länder, die keine Berufslehren und nur Hochschulausbildungen kennen, sind heute mit dramatischer Jugendarbeitslosigkeit konfrontiert – und entdecken die arbeitsmarktliche Überlegenheit des dualen Berufsbildungssystems. Als Erste hat Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen, spanische Jugendliche könnten in Deutschland eine Berufslehre machen. Bern zieht jetzt nach.
Die Idee ist a prima vista bestechend: Besser, wir importieren ausbildungswillige junge Leute statt ungelernte Hilfskräfte aus Nordportugal, Rumänien und Bulgarien, die mangels beruflicher Qualifikation viel eher irgendwann auf Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe angewiesen sind, wie statistische Zahlen belegen. Doch die Idee entpuppt sich als Schnellschuss. Im Gewerbeverband ist man davon nicht gerade begeistert. Und an den Berufsfachschulen fragt man sich besorgt, wie sich zum Beispiel osteuropäische Jugendliche in den Fachunterricht eingliedern lassen, schon nur der unterschiedlichen Sprache und Vorbildung wegen.
Die Rekrutierung ausländischer Lehrlinge mag Branchen mit Lehrlingsmangel zwar im günstigsten Fall helfen. Die Kehrseite des Experiments wäre aber, dass hiesige Versäumnisse in der Ausbildung einfach übertüncht würden: Zum Beispiel die seit zehn Jahren bekannte und dennoch anhaltende Unterlassung, genügend Pflegepersonal an unsern Spitälern auszubilden. Mangel an qualifiziertem Personal ist die Folge. Oder die defizitäre Berufsbildungskultur im Gastrogewerbe, wo nur jeder zehnte Betrieb überhaupt Lehrlinge ausbildet. Oder das kurzsichtige, egoistische Zögern der IT-Branche, die Zahl der Informatikerlehrstellen zu erhöhen.
Dient der Vorschlag von Bundesrat Schneider-Ammann überhaupt Südeuropa? Hilft er Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Polen? Wenn deren Jugendliche bei uns die Ausbildung machen, werden sie vermutlich auch hier bleiben. Die Personenfreizügigkeit gibt ihnen das Recht dazu.
Eine langfristige Hilfe wäre eher eine Berufsbildung in den Herkunftsländern. Die duale Berufsbildung ist ein Exportmodell. Die Regierung in Berlin hat das erkannt. Alle deutschen Diplomaten werden instruiert, die Berufslehre als erfolgreiches «deutsches Ausbildungsmodell» weltweit zu propagieren. Der neue Unesco-Bericht «Youth and Skills» propagiert mit vielen Beispielen das deutsche Modell. Und selbst US-Präsident Barack Obama rühmte in seiner letzten Rede zur Lage der Nation die deutsche Berufsbildung als nachahmenswert.
Was machen da die Schweizer Diplomaten? Die haben mit wenigen Ausnahmen nicht die leiseste Ahnung von Berufsbildung. Im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten und unter Schweizer Diplomaten ist die Berufsbildung ein No-go, ein Unthema.
Vor zehn Jahren schon habe ich Berufsbildungsprojekte in der Osthilfe angeregt. Doch von all dem Geld, der sogenannten Kohäsionsmilliarde, mit welcher die Schweiz die neuen EU-Staaten unterstützte, ging weniger als 1 Prozent in die Berufsbildung: Nur vier kleine Projekte wurden realisiert. Dabei fehlen in diesen überakademisierten Ländern vor allem Berufsleute, Handwerker, praktisch Ausgebildete, die auch selber einen kleinen Betrieb eröffnen und Arbeitsplätze schaffen könnten. Die Osthilfemilliarde wurde konzeptlos, ohne klare Prioritäten, von immer wechselnden Diplomaten nach dem Giesskannenprinzip verteilt – ähnlich konzeptlos wie die zig Milliarden des EU-Kohäsionsfonds.
Die EU verlangt nun von der Schweiz ultimativ einen weiteren Osthilfebeitrag für die nächsten zehn Jahre. Die Rede ist von 1,3 Milliarden Franken. Dieses Engagement ist ein Muss, schliesslich profitieren Schweizer Firmen vom Osteuropageschäft. Doch warum damit nicht Lehrwerkstätten, Berufsschulen und Berufsbildungsstrukturen in den Ländern Osteuropas finanzieren? Zudem könnte man in der Schweiz ausgebildete Lehrlinge aus diesen Staaten nach einigen Jahren dort als Ausbildner einsetzen, anfänglich aus dem Osthilfekredit finanziert. Diese Leute würden wahrscheinlich Investitionsgüter aus der Schweiz beziehen. So sähe eine kohärente Strategie aus.
Auch in der Entwicklungszusammenarbeit müsste die Berufsbildung ein Exportmodell sein. In Afrika gibt es Hunderttausende von Uniabgängern. Viele von ihnen sind in der staatlichen Bürokratie, in Hotels oder Taxibetrieben mehr schlecht als recht beschäftigt. Aber es gibt kaum Mechaniker, Elektriker, Schreiner, Mechatroniker oder Spengler, die diesen Namen verdienen. Pfusch ist vielerorts Standard. In der gewerblichen Berufsbildung läge ein Riesenpotenzial, lokal neue Einkommensquellen und Arbeitsplätze zu schaffen. Doch das Berufsbildungsland Schweiz investiert für Berufsbildungsprojekte nur knapp 2 Prozent der rund 2 Milliarden, die jährlich in die internationale Zusammenarbeit fliessen. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) hat in Bern ein Berufsbildungsdesk mit genau einem Mitarbeiter, der in der mit Akademikern besetzten Bürokratie verzweifelt um Verständnis für die Berufslehre ringt.
Der Deza-Chef, Botschafter Martin Dahinden, hat mir vor zwei Jahren versprochen, die Berufsbildung stärker zu fördern. In der Zwischenzeit sind die finanziellen Mittel dafür tatsächlich um ein Viertel erhöht worden: um 10 Millionen auf 2 Prozent des Gesamtbudgets! Und eine weitere Anhebung, unter anderem für Burma, auf 4 Prozent ist geplant. Das ist immer noch sehr bescheiden. Derweil setzt die private, industrienahe Swisscontact klar und entwicklungswirksam auf Lehrwerkstätten. Helvetas und Solidar Suisse betreuen auf bescheidenem Feuer auch einige wenige Berufsbildungsprojekte.
Die duale Berufsbildung hat weltweit an Reputation und Wichtigkeit gewon- nen, dank der Offensive der Deutschen und trotz des Schweigens schweizerischer Diplomaten. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich der internationale Stimmungswandel – mit helvetischer Verspätung – doch noch in einem Kurswechsel der schweizerischen Osteuropa- und der Entwicklungshilfe niederschlägt. Die duale Berufslehre wäre ein super Exportmodell!
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