Bern und die Politik der Scholle

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 29. Oktober 2013

Von allen Kantonen erhält Bern die grösste Transfersumme an Finanzausgleichszahlungen: 1,1 Milliarden Franken jährlich. Pro Kopf erhalten die Berner zwar weniger als etwa die Walliser, Freiburger, Urner, Jurassier und Glarner. Aber auf Bern, den zweitbevölkerungsreichsten Kanton, entfällt der sichtbar grösste Brocken. Und deshalb ist Bern zur Zielscheibe jener reichen Geberkantone geworden, die bisher dank tiefer Firmensteuern und Steuerbefreiungen für ausländische Holdinggesellschaften am stärksten für den Finanzausgleich beigezogen wurden – und jetzt unter Druck sind.

Mit Häme haben gewisse SVP-Blätter die Berner als die «Griechen der Schweiz» bezeichnet und als Subventionsempfänger, die am «Tropf der Tüchtigen» hingen. Berner Regierungsräte traten landesweit zu verzweifelten Verteidigungsreden an.

Sind die Berner fauler oder verschwenderischer als andere Schweizer? Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Im Kanton Bern wird mindestens so viel, so fleissig und so zuverlässig gearbeitet wie anderswo in der Deutschschweiz. Und die Berner beziehen trotz hoher Steuern nicht mehr Staatsleistungen als andere. Das Problem des Kantons Bern ist ein strukturelles und historisches: Es sind die ländlichen Regionen mit ihrer tiefen Wirtschaftskraft.

Würde der Kanton Bern lediglich aus der Wirtschaftsregion Bern, dem Aaretal von Thun bis Bern sowie aus Biel bestehen, wäre er schweizweit im vordersten Drittel aller Kantone bezüglich Bevölkerungsdynamik, Wirtschaftswachstum und Kaufkraft. Der industrielle Ausstoss ist interessanterweise so gross wie in keinem anderen Kanton, und die Arbeitslosigkeit ist bemerkenswert tief. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf liegt in der Wirtschaftsregion Bern/Mittelland mit 80 000 Franken weit über dem schweizerischen Mittel. Andere Regionen – das Berner Oberland, das Emmental, der Berner Jura, der Oberaargau und das Seeland – kommen allerdings nur auf die Hälfte. Diese strukturschwachen Regionen mit ihrem Übergewicht an Land- und Forstwirtschaft, Tourismus und Bauwirtschaft drücken den Durchschnitt und entziehen dem Kanton die Finanzkraft.

Ein Blick auf die Produktivitätsunterschiede in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) erklärt vieles: Während die schweizerische Wirtschaft im Durchschnitt 130 000 Franken Wertschöpfung pro Vollzeitbeschäftigten erarbeitet, erreicht der Sektor Landwirtschaft (im Kanton Bern dreieinhalb mal grösser als im Kanton Zürich) bloss 33 000 Franken, die Hotellerie und der Tourismus erzielen unterdurchschnittliche 60 000 Franken – die Bauwirtschaft 98 000 Franken. Über die Hälfte der Berner Bevölkerung lebt in den Land- und Randregionen, die abhängig sind von Land- und Forstwirtschaft, Tourismus und Baugewerbe. Das «Amstutz- Hinterland», wie es die Berner in Anspielung auf den SVP-Exponenten Adrian Amstutz aus Sigriswil nennen, ist der Bleifuss, der den Strukturwandel erschwert.

Die Aufrechterhaltung einer umfassenden Infrastruktur und aller öffentlichen Dienstleistungen kommt in dezentralen Siedlungsräumen erfahrungsgemäss extrem teuer. Jedes Tälchen will sein Spitälchen. Praktisch jede Spitalschliessung oder -zusammenlegung stösst auf heftigen politischen Widerstand. Jedes abgelegene Gehöft muss erschlossen werden. Auch das entlegene Emmentaler Haus mit 30 000 Franken Ertragskraft muss – kein Witz – mit Strasseninvestitionen von 3 Millionen Franken wintersicher erschlossen werden. Von den rund 380 bernischen Gemeinden sind im innerkantonalen Finanzausgleich deren 339 Nehmergemeinden. Die bernische Regierung wollte in ihrer «Wirtschaftsstrategie 2025» eine gewisse Schwerpunktbildung der Wirtschaftsförderung in den wirtschaftsstarken Regionen anvisieren. Doch das bernische Parlament mit einer Allianz von ländlichen Vertretern unter SVP-Führung pfiff die Regierung zurück und verhinderte die Stärkung der Starken. Während es Graubünden, Uri und das Tessin fertigbrachten, die potenzialschwachen Räume in ihren Kantonen zu identifizieren, um auch die Subventionen geordnet zurückzufahren, ist dies im Kanton Bern mit dem ländlichen Übergewicht schlicht unmöglich – mit entsprechenden Folgelasten.

Zwar müsste der Kanton Bern in den nächsten Jahren eine halbe Milliarde Franken an Staatsausgaben einsparen, so eine externe Strukturanalyse der Kantonsfinanzen, aber dennoch werden jetzt die Motorfahrzeugsteuern auf Initiative eines Garagisten um 100 Millionen Franken auf das schweizweit fast tiefste Niveau gesenkt. Auch die Handänderungssteuer für kleinere Liegenschaften wird beseitigt. Die bernische SVP, einst die staatstragende Partei, ist seit dem Ausscheiden der gemässigteren BDP zu einer radikalisierten Tea-Party- Koalition aus Globalisierungsverlierern und Subventionsempfängern geworden.

Der relative Abstieg Berns hat eine lange Geschichte. Wie die beiden Historiker Stefan von Bergen und Jürg Steiner in ihrem Buch «Wie viel Bern braucht die Schweiz?» feststellen, hat die Verhinderungspolitik schon 1922 begonnen – nach dem überwältigenden Wahlsieg der von Rudolf Minger gegründeten Bernischen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP). Diese Partei verhinderte von Anfang an die Einzonung von Stadtrandgemeinden in die Stadt Bern und damit auch deren Wachstum. Jahrzehntelang wurde die Grösse industrieller Bauzonen systematisch begrenzt. Mit dem Referendum «Rettet die Scholle» brachte die BGB 1944 das vom Bundesrat favorisierte Projekt eines nationalen Flughafens bei Utzenstorf zu Fall, worauf Kloten den Zuschlag erhielt.

In der Wirtschaftsregion Bern/ Mittelland fehlt es heute an grösseren zusammenhängenden Bauzonen, in denen neue Industrie- und Dienstleistungszentren angesiedelt werden könnten. Dessen ungeachtet, ist der bernische Bauernverband Lobag gerade dabei, eine Kulturlandschutzinitiative gegen weitere Bauzonen im Kanton vorzubereiten, mit aktiver Hilfe von SVP, BDP und Grünen. Die FDP und SP verfolgen die populistische Nostalgie-Offensive fast wie gelähmt, denn nächstes Jahr stehen Wahlen im Kanton Bern an.

Der relative wirtschaftliche Abstieg des Kantons wird wohl leider weitergehen. Die historisch gewachsene Politik der Scholle hat ihren Preis. Die aufrechten Berner trösten sich damit, dass der Schwingerkönig einer von ihnen ist.

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