Kolumne von Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-Online, 14. 6. 2022
Bremser und Bedenkenträger beherrschen die Energielandschaft. Es bräuchte einen Deal der Willigen.
Heute vor genau einem Jahr und einem Tag erlebte die Schweiz den Absturz der CO2-Vorlage in der Volksabstimmung. Die Konsternation war perfekt. Liest man derzeit die Zeitungen, sind Katerstimmung und Pessimismus zu Energiefragen allgegenwärtig. Doch Bundesbern hat sich mit einer Aufteilung der Energiestrategie in gesplittete und wirksamere Teilvorlagen rasch aufgefangen.
Nie zuvor hat man erlebt, dass der Bundesrat aus den Trümmern einer gescheiterten Abstimmungsvorlage so schnell neue, verständlichere Teilvorlagen einer Gesamtstrategie aufgegleist und fürs Parlament vorbereitet hat. Viele Medienleute und diverse Politiker haben allerdings den Überblick über die Einzelvorlagen verloren und transportieren jetzt Katerstimmung.
Ohne hier die gesetzestechnischen Zuordnungen im Detail zu benennen, stecken derzeit rund zehn konkrete Massnahmen zur nachhaltigen Eigenversorgung in der Pipeline der Verwaltung und des Parlaments:
– Über 12 Milliarden Franken für die Förderung einheimischer erneuerbarer Energien aus Solar, Wasserkraft, Wind
– Einigung auf 15 Stausee-Projekte am «Runden Tisch Wasserkraft» durch NGOs, Kantone und Branche
– Über eine Milliarde Franken für diese 15 neuen Stauseeprojekte
– Beschleunigung der Bewilligungsverfahren für Stauseeprojekte und Windparks
– Abschaffung der Bewilligungspflicht beim Installieren von Solaranlagen auf Gebäuden
– Erleichterungen für Solaranlagen ausserhalb der Bauzone, etwa auf Stauseen oder in der Landschaft
– 4 Milliarden Franken für den Ersatz von alten Öl- und Gasheizungen und für Gebäudesanierungen
– Wasserkraftreserve in Speicherseen (Sofortmassnahme mit Verordnung)
– Reservestromanlagen mit Erdgas und Gasnotlieferung aus Deutschland
– Finanzieller Rettungsschirm bei Illiquidität für systemrelevante Elektrizitätsversorgungsunternehmen
In dieser Woche wird das Parlament neben der Gletscherinitiative die letztgenannte Rettungsschirm-Vorlage behandeln. Der Rettungsfonds des Bundes von 10 Milliarden Franken ist für den Fall, dass ein Elektrizitätsunternehmen durch seine Stromtermingeschäfte (sprich: Spekulation) im durchliberalisierten europäischen Strommarkt in Zahlungs-schwierigkeiten gerät. Denn diese Werke sind systemrelevant.
Man könnte allerdings solche Finanzrisiken wirksam reduzieren durch eine Begrenzung ihrer spekulativen Stromtermingeschäfte oder durch die Pflicht zu mehr Eigenmitteln wie bei den Grossbanken.
Seit der CO2-Abstimmung hat sich allerdings eine neue Priorität vor den Klimaschutz geschoben: Die geopolitische Lage zwingt uns, die Versorgungssicherheit zu priorisieren. Ich würde von einem Paradigmenwechsel sprechen. Viele haben das noch nicht erkannt.
Jahrelang habe man sich beim Strom mit der «Fiktion» von Stromimporten aus Europa täuschen lassen, so der ehemalige Energieamtsdirektor Eduard Kiener. Heute ist allen Fachleuten klar, dass auf die Stromversorgung aus Europa – mit oder ohne Stromabkommen – kein Verlass sein kann. Ganz Europa läuft in einen Strommangel hinein. Die gegenseitigen Stromlieferpflichten der EU-Länder sind im Knappheitsfall toter Buchstabe. Jedes Land schaut in einer Strommangellage zuerst für sich!
Firmen und Institutionen prüfen jetzt die Installation eigener Notstromanlagen. Alle Energietheoretiker und viele Politiker vergessen indes, dass heute bei Energieinvestitionen der grösste Vollzugsengpass bei den fehlenden praxisorientierten Fachleuten liegt, die von der Beratung bis zur Installation die Zehntausenden von anstehenden Energiesanierungsprojekten am Bau realisieren können. Ohne eine Qualifikationsoffensive von Bund und Verbänden auf der Stufe der höheren Berufsbildung sind die Investitionsziele unerreichbar und die vielen Fördermittel überflüssig!
Die beschriebenen Massnahmen sind verheissungsvoll, genügen aber längerfristig nicht. Doch im Parlament und in Verbänden wird mit angezogener Handbremse gefahren. Und die Radikalisierung der geschrumpften Klimabewegung ist wenig hilfreich. Dogmatische Landschaftsschützer blockieren bei Grossanlagen für Wasserkraft und Fotovoltaik. Alpenkantone blockieren wegen der ungelösten Heimfallproblematik. Der Mantelerlass zur Elektrizitätsversorgung wird seit einem Jahr in der ständerätlichen Kommission vertrödelt und zerredet. Die Erdöllobby als Sieger der CO2-Abstimmung nutzt weiterhin den Hauseigentümerverband für Blockaden. Schweizer Energiekonzerne installieren nur im Ausland ihre Riesenanlagen für Fotovoltaik und Wind. Und verkrustete Atomkämpfer verhindern neue Alternativen. Neue, inhärent sichere Atomkraftwerke können zwar später im Jahrhundert durchaus eine Alternative darstellen. Vor 2050 muss man sie jedoch vergessen.
Bremser und Bedenkenträger beherrschen die Energielandschaft. Es bräuchte einen Deal der Willigen. Wenn aber in der Schweiz oder in Europa nur einen Tag lang der Strom ausfällt, dann sind Klimapolitik und Nachhaltigkeitsdiskurs im Eimer. Und sollte der Stromblackout länger dauern, bleibt der Politik nur noch dieses übrig: Notrecht, Diesel-Notstrom und Frieren.
Publiziert TA-Media 14. 6. 2022 (Internet-Version in TA-Online)