Baustellen der Bildungspolitik

 

Essay von Rudolf Strahm in der Unternehmer-Zeitung Nr. 4-2013 vom April 2013.

 

In der EU ist derzeit jeder vierte Jugendliche unter 25 Jahren, der nicht in Ausbildung begriffen ist, arbeitslos. Demgegenüber haben die fünf Länder mit einem dualen Berufsbildungssystem – also einer betrieblichen Berufslehre kombiniert mit einer staatlichen Berufsfachschule – im Durchschnitt eine drei mal tiefere Jugendarbeitslosenquote.

 

Diese Berufsbildungsländer sind die Schweiz, West-Deutschland, Oesterreich, Holland und zu einem gewissen Grad auch Dänemark. Trotz ihren im globalen Vergleich hohen Löhnen und Preisen sind sie industriell stark geblieben, weil sie dank der Berufsbildung eine hohe Arbeitsqualität, Präzisionsarbeit, Termintreue, massgeschneiderte Spezialitäten und technologische Innovationen garantieren können. Die teure Schweiz ist trotz hoher Löhne das Land mit der höchsten industriellen Wertschöpfung pro Kopf.

 

Demgegenüber erlitten und erleiden ehemalige Spitzen-Industriestaaten wie Frankreich, England, Norditalien einen beispiellosen Niedergang ihrer Industrien. Hauptgrund: Ihnen fehlt die qualifizierte Arbeitskraft, die ihren Industrien om globalen Wettbewerb zu höherer Produktivität und zu technologischen Innovationen verhilft. Das Berufsbildungsystem (Berufslehre) und die berufspraktisch ausgerichtete Tertiärbildung (Höhere Fachschulen, höhere Berufsbildung und Fachhochschulen) sind den vollschulischen, rein gymnasialen und universitären Bildungssystemen überlegen. Die lateinischen und angelsächsischen Länder stecken in der Akademisierungsfalle.

 

Mit der Bildungspolitik wird eben auch Wirtschaftspolitik betrieben. Schmalbrüstige Lehrbuchökonomen ohne Betriebspraxis haben davon keine Ahnung.

 

Wir haben derzeit in der Schweiz drei entscheidende Baustellen in der Bildungspolitik, die seit Anfang Jahr im neuen „Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF“ unter Bundesrat Johann Schneider-Ammann angesiedelt ist: Die höhere Berufsbildung, die Steuerung des Fachkräftemangels und die Weiterbildung.

 

Stichwort: höhere Berufsbildung HHB

Rund 30% eines Jahrgangs absolvieren nach der Berufslehre eine höhere Berufsbildung mit drei Bildungsgängen: Höhere Fachschulen HF (nicht zu verwechseln mit den Fachhochschulen FH ), Eidgenössische Berufsprüfungen und Höhere eidgenössische Fachprüfungen. Diese Weiterbildungsstufen unter dem zusammenfassenden Begriff „Tertiär B“ werden verkannt. Sie sind meist berufsbegleitend, sie sind teuer und die Absolventen und Arbeitgeber müssen sie selber bezahlen – im Gegensatz zu den gleichaltrigen Universitäts- und Fachhochschulabsolventen („Tertiär A“). Der Schweizerische Gewerbeverband fordert lautstark – meines Erachtens zu Recht – eine stärkere Mitfinanzierung durch den Bund.

 

Die höhere Berufsbildung ist heute der wichtigste Transfermotor von neuen Technologien und Prozesswissen in die KMU-Wirtschaft. Sie ist arbeitsmarkt- und praxisnäher als die Fachhochschulen, die mehr den Universitäten nacheifern und neu nur noch promovierte Lehrpersonen anstellen. Oft absolvieren noch 25-, 30- oder 35-Jährige berufsbegleitend einen mehrjährigen Lehrgang in neuesten Technologien und bilden dann das mittlere Kader in der KMU-Wirtschaft. Früher waren es die Meister und Poliere, heute gibt es über 500 Abschlüsse der höheren Berufsbildung, aber keinen einheitlichen Titel. Das ist mit ein Grund, weshalb diese grosse und für die Wirtschaft zentrale Weiterbildung so verkannt und ignoriert ist. Im Parlament fordert jetzt die Motion Aebischer, die von 72 Nationalräten aller Parteien unterzeichnet worden ist, für die HHB-Abschlüsse einen einheitlichen übergreifenden Titel eines „Professional Bachelor“. Eine derartige Titeläquivalenz zu den andern Bildungsgängen ist dringend nötig, doch die Absolventen der Fachhochschulen, präsidiert von Nationalrat Wasserfallen, wehren sich aus standespolitischen Gründen noch vehement dagegen.

 

Stichwort: Akademischer Fachkräftemangel

Wir haben nicht generell einen Akademikermangel. Wir haben einen Mangel an Ärzten und der ist hausgemacht durch den unsinnigen Numerus Clausus an den medizinischen Fakultäten. Letztes Jahr haben sich 3150 Schweizer Maturaabsolventen/innen für das Medizinstudium angemeldet, doch es standen nur 650 Studienplätze zur Verfügung.

Wir haben zudem einen Mangel an Ingenieuren und Informatikern. Auch dieser Mangel an MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) ist hausgemacht durch die Sprachlastigkeit der gymnasialen Ausbildung und vor allem wegen der viel starken Sprachgewichtung beim Zugang zum Gymnasium. Wenn männliche Jugendliche mit Stärken in Mathematik und naturwissenschaftlichem Denken nicht auch gute Sprachnoten mitbringen, schaffen sie oft schon den Zugang zum Gymnasium nicht – im Gegensatz zu den sprachfleissigeren Mädchen. Die Steuerung des Bildungswesens läuft auch über den Notenmix der Zugänge.

 

Unsere Universitäten ermöglichen  auf der andern Seite viel mehr geisteswissenschaftliche Abschlüsse: An den Schweizer Universitäten studierten im letzen Studienjahr 4282 Historiker und Kunsthistoriker, 7847 Psychologen, 4520 Politologen, 1184 Ethnologen – insgesamt doppelt so viele Studierende in Geistes- und Sozialwissenschaften wie in exakten und Naturwissenschaften. Die sogenannte Autonomie der Universitäten macht sie immer arbeitsmarktferner.

 

Stichwort: Weiterbildung

Wir haben ein hochentwickeltes Angebot an Weiterbildungsmöglichkeiten. Jährlich werden rund 100’000 Bildungsgänge angeboten, mehrheitlich von privaten Anbietern. Jährliche werden etwa 5,5 Milliarden Franken für Weiterbildung ausgegeben. Hauptproblem ist die mangelnde Transparenz der Abschlüsse. Bislang kann jeder ein Diplom ausstellen und oftmals wissen weder die Kursbesucher noch die Arbeitgeber, was hinter diesen Diplomen, Zertifikaten und Abschlussbezeichnungen steckt. Mit dem Weiterbildungsgesetz, das der Bundesrat Ende Mai 2013 nach sechsjähriger Vorbereitung endlich dem Parlament unterbreiten will, soll die Markttransparenz verbessert und die Qualitätskontrolle und Zertifizierung von Abschlüssen geregelt werden.

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