Alles läuft in Richtung Akademisierung

Neue Zürcher Zeitung vom 20.01.2014, Seite 44
«Alles läuft in Richtung Akademisierung»
Der Bildungsexperte Rudolf Strahm zu den Vorzügen der dualen Berufsbildung und den bildungspolitischen Prioritäten
Herr Strahm, ist die duale Berufsbildung in der Schweiz ein Auslaufmodell?

Nein, im Gegenteil. Die duale Berufsbildung findet heute national und international mehr Beachtung als vor zwei Jahrzehnten. Ich habe Mitte der 1990er Jahre hautnah erlebt und mitgelitten, wie man bei uns unter dem Diktat der OECD-Bildungssystematik die Berufsbildung kantonalisieren und die Berufsschulen in die Gymnasien verlegen wollte. Heute stehen die Berufsbildungsländer dank ihrer tiefen Jugendarbeitslosigkeit und der hohen industriellen Performance besser da als die Länder mit vollschulischen und akademischen Bildungsgängen.

Geniesst die Berufsbildung in der Politik auch den Stellenwert, den sie verdient?

Landesintern erhält die duale Berufsbildung heute durchaus rhetorischen Support. Aber im Zweifelsfall neigen auch die Parlamentarier immer zur Priorisierung der akademischen Bildungswege. Vor allem in der Bildungselite der Romandie gilt die Berufslehre als eine Art «Arme-Leute-Job». In der deutschen Schweiz hat die Berufsbildung vor allem im Gewerbe und bei der KMU-Wirtschaft starken Rückhalt.

Der Gewerbeverband sagt, der akademische Bildungsweg werde gegenüber der Berufsbildung bevorzugt. Stimmt das?

Selbst wenn man die verbandspolitische Kampfrhetorik des Gewerbeverbands einmal wegsteckt, muss man seiner Kritik weitgehend recht geben. Alles läuft in Richtung Akademisierung: in den Köpfen der Eltern, in den Medien und sogar in den HR-Abteilungen der grossen Firmen. Dies manifestiert sich dann auch bei der Verteilung der öffentlichen Finanzen. Für einen Gymnasiasten gibt die öffentliche Hand dreimal mehr aus als für einen gleichaltrigen Lehrling. Und auf der Tertiärstufe zahlt ein Absolvent der höheren Berufsbildung seine Ausbildung (eventuell zusammen mit seinem Arbeitgeber) mit 6000 bis 10 000 Franken pro Jahr selber, während der gleichaltrige Hochschulstudent 1500 Franken Studiengebühr entrichten muss. Auch die prestigemässige Wertschätzung der Titel ist ungleich, obschon die höhere Berufsbildung heute für die Diffusion der neusten Anwendungstechnologien wichtiger ist als die Hochschulen.

Im Rahmen eines Pilotprojekts sollen Maturanden ohne das gesetzlich vorgeschriebene Praxisjahr direkt an der Fachhochschule studieren können. Theoretiker an einer praxisorientierten Schule. Was ist davon zu halten?

Dieser Trend besteht. Aber er ist gesetzeswidrig. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Fachhochschulstudium festgelegt, dass als Regelzugang eine Berufslehre mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) und eine Berufsmaturität nötig sind oder ein obligatorisches Praxisjahr nach dem Gymnasium. Für die SGK-Berufe (Soziales, Gesundheit, Kunst) hat man eine Ausnahme gemacht. Mit der fehlenden Berufspraxis ihrer Studierenden degradieren sich die Fachhochschulen selber zu einer Art «Universitäten zweiter Klasse».

Aber was wäre denn so schlimm am System der «dualen Hochschule»?

Dieses System wird von berufsbildungs-kritischen Kreisen propagiert. Es läuft in der Praxis auf das ausländische System hinaus, wo Hochschulstudenten ein Betriebspraktikum einschieben. Für stark wissensbasierte Berufe, etwa für Informatiker, Bank- oder Versicherungsfachleute (von dort kommt ja dieses «Avenir-Suisse-Modell») mag das eine Behelfslösung sein. Aber die formale Einführung dieses Modells in der Schweiz wäre ein Sargnagel ins System der echt dualen Berufslehre.

Wenn die gymnasiale Matura quasi zum Passepartout für sämtliche Bildungswege würde – wäre das also der Anfang vom Ende für die Berufsbildung?

Ja, durchaus. Denn die Berufsbildung hat ja neben dem Fachwissen (Knowledge) noch zwei andere Standbeine, die im Gymnasium nicht im Vordergrund stehen, nämlich die Qualifizierung der praktischen Intelligenz, also die Fähigkeit, Fachwissen praktisch anzuwenden (Skills), und die Vermittlung von betrieblichen Arbeitsqualitäten wie Präzision, Verantwortung, Zuverlässigkeit, Termintreue. Es gibt halt einseitig begabte oder schulmüde Jugendliche, die sich in gymnasialen Bildungsgängen durchquälen, aber in einer dualen Berufslehre aufblühen, weil bei ihnen die praktische Intelligenz und andere Neigungen zum Tragen kommen.

Nach wie vor absolvieren in der Schweiz zwei Drittel der Jugendlichen eine Berufslehre. Ist es da nicht viel zu früh für einen Abgesang auf die Berufsbildung, wie ihn der Gewerbeverband anstimmt?

Wie gesagt, da ist auch verbandspolitische Kampfrhetorik im Spiel. Aber gewerbliche Betriebe haben es angesichts des Rückgangs der Jahrgänge schwerer, gute Lehrlinge zu finden. Die Gymnasien füllen weiter ihre Klassen auf oder erweitern sich sogar, während die Gesamtzahl der Jugendlichen zurückgeht.

Welche Massnahmen braucht es, damit eine Berufslehre für die jungen Leute auch in Zukunft attraktiv bleibt?

Absolut entscheidend ist, dass die Titel der höheren Berufsbildung (HBB) aufgewertet werden, nach dem System «kein Abschluss ohne Anschluss». Deren Bildungsgänge (höhere Fachschulen HF, eidgenössische Berufsprüfungen BP und höhere eidgenössische Fachprüfungen HFP) müssen zusätzlich zur deutschen Diplombezeichnung den übergreifenden Titel eines «Professional Bachelor» bzw. eines «Professional Master» erhalten. Denn sie stehen heute in Konkurrenz mit Trägern ausländischer Bachelor- und Master-Titel, die nie so viel können wie die schweizerischen HBB-Absolventen, aber mit einem akademischen Titel ins Land kommen. Die Aufwertung der höheren Berufsbildung ist die Schicksalsfrage für die Zukunft des dualen Berufsbildungssystems.

Im Weitern muss auch das Gewerbe einsehen, dass die höherschwelligen Lehrberufe, wie etwa Informatiker, Polymechaniker, Installateure, etwas mehr Schulstunden brauchen, zum Beispiel technisches Englisch und eine Wochenstunde mehr Deutsch. Und die guten Lehrlinge dürfen nicht daran gehindert werden, mit der Lehre auch die Berufsmaturität zu absolvieren.

– Ende-

Interview: Claudia Wirz

Rudolf Strahm ist ehemaliger Nationalrat und Preisüberwacher, absolvierte eine Berufslehre, eine Fachhochschule und eine Universität und präsidiert heute den Schweizerischen Verband für Weiterbildung SVEB. Er wirkt an den Universitäten Bern und Freiburg bei der Ausbildung von Berufsberatern mit.

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