AHV-21. Es darf kein Defizit bei der AHV geben

Kolumne von Rudolf Strahm in TA-Media. Vom 5.7.2022

Es stimmt, dass die Frauen benachteiligt werden, aber nicht bei der AHV – auch nicht bei Rentenalter 65. Wichtig ist, dass die erste Säule jetzt nicht «gesundgeschrumpft» wird. Hier die Kolumne.

Die Aussichten für Rentnerinnen sind finanziell oft schlechter als jene der Männer. Schuld daran ist der Lohn und die Pensionskasse, nicht die AHV.

Die Volksabstimmung vom 25. September zur AHV-Reform wird eine schwierige Auseinandersetzung werden. Nach dem Beschluss für ein Mehrwertsteuerprozent zugunsten der AHV im Jahr 1993 und der 10. AHV-Revision von 1995 sind seither alle Reformanläufe bei der ersten Säule gescheitert.

Es geht bei dieser Abstimmungsvorlage um die finanzielle Sanierung der AHV – und zwar erstens durch eine gestaffelte Angleichung des Frauen-Rentenalters auf 65 (analog jenem der Männer), verbunden mit einer dauernden finanziellen Kompensation für die neun Frauenjahrgänge vor der Pensionierung. Zweitens soll ein kleiner Zuschlag von 0,4 Prozent bei der Mehrwertsteuer (MwSt.) jährlich rund anderthalb Milliarden in die AHV-Kasse spülen.

Es ist auf beiden Seiten viel – meines Erachtens zu viel – Prestige und zu wenig Weitsicht im Spiel. Für die Stimmbürger ist es eine Herausforderung. Was stimmt nun und was stimmt nicht in dieser Debatte?

Erstens stimmt, dass die Frauen im Arbeitsmarkt lohnmässig benachteiligt sind. Das BFS errechnet aufgrund der Lohnstrukturanalyse eine Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen in der Gesamtwirtschaft von rund 18 Prozent. Wenn man die Unterschiede in Ausbildung, Alter, Funktion und Branche abzieht, verbleibt immer noch eine unerklärte Lohndifferenz von 8 Prozent, also ein voller Monatslohn! Bei staatlichen Stellen sind es 6 Prozent. Die Lohndiskriminierung ist eine Tatsache.

Altersprekariat bei Frauen 

Zweitens stimmt, dass bei der zweiten Säule die Frauen massiv benachteiligt sind. Die Lohnanteile unter 24’000 Franken wirken nicht rentenbildend. Das trifft am meisten die Teilzeiterinnen. Das Pensionskassensystem der zweiten Säule produziert häufig bei Frauen ein Altersprekariat nach ihrer Pensionierung. Die Quittung ist später bei der BVG-Abstimmung zu erwarten. Zusätzlich versickert jährlich jeder siebte Rentenfranken der Pensionskassen in der Vermögensverwaltung und der Kassenverwaltung.

Drittens stimmt es aber nicht, dass das AHV-System an sich die Frauen benachteiligt – heute nicht und auch nicht nach dieser Revision. Denn die Frauen beziehen dank ihrer höheren Lebenserwartung ganze 4,1 Jahre länger ihre AHV-Rente. Sie werden zusätzlich für ihre Jahre der Kinderbetreuung mit der Erziehungsgutschrift entschädigt, auch wenn sie in dieser Periode kein Einkommen erzielt hatten. Zudem ist die AHV so gestaltet, dass auch jenen eine Mindestrente, also die Hälfte der Maximalrente, zusteht, die zuvor wenig oder nichts verdient hatten. Fakt ist, die AHV, als System für sich betrachtet, benachteiligt die Frauen nicht, auch nach der Angleichung der Rentenalter von Frau und Mann nicht. 

Ich habe kein Verständnis, wenn im Zusammenhang mit der AHV-Vorlage vom September von «Sozialabbau» oder «Raub an den Frauen» geredet wird. Verständnis verdienen aber jene Frauen vor der Pensionierung, die ihre Lebensplanung auf ein Pensionsalter 64 ausgerichtet hatten. Sie sind die Betroffenen. Ihr Widerstand ist verständlich. Gerade deshalb rechtfertigen sich die Staffelung der Rentenalter-Erhöhung über mehrere Jahre und der vorgesehene lebenslang geltende Rentenzuschlag für neun Frauen-Jahrgänge als Kompensation.

Das Fazit: Das Arbeitsmarkt- und das Sozialsystem benachteiligt als Ganzes unwiderlegbar die Frauen. Aber das System AHV, für sich betrachtet, benachteiligt die Frauen nicht! Es kann nicht die systemische Diskriminierung in den andern Lebensbereichen kompensieren.

Die AHV braucht zusätzliches Geld

Der zweite Teil der Vorlage ist neu ebenfalls umstritten, nämlich die geringe Erhöhung der MwSt. zugunsten der AHV. Es ist irritierend und ein Kurswechsel der Linken, dass nun auch diese Zusatzfinanzierung schlechtgeredet wird. Dabei ist längerfristig die MwSt. die einzig nachhaltige Finanzierungsquelle. Eine AHV-Finanzierung aus den immensen Nationalbank-Gewinnen (was ich extrem begrüssen würde) ist völlig unsicher. 

Der Zuschlag von 0,4 MwSt.-Prozent kostet bei einem 100-Franken-Wocheneinkauf bloss 25 bis 30 Rappen mehr. Man muss halt das MwSt.-System kennen: Denn erstens ist der Grundbedarf wie Miete, Krankenversicherung, Bildung von der MwSt. vollständig befreit. Zweitens geniessen Lebensmittel, Bücher, Kultur einen drei Mal tieferen Steuersatz, nämlich 2,5 statt 7,7 Prozent. Drittens müssen (im Gegensatz zu Lohnprozenten) auch zwei Millionen Rentner und Kapitaleinkommensbezüger im Ausmass ihres Konsums Mehrwertsteuer an die AHV entrichten. Das ist korrekt. 

Bei all diesen finanztechnischen Fragen dürfen wir aber das Hauptziel der AHV-Revision vom September nicht vergessen: Die AHV braucht wegen der Alterung zusätzliche Mittel. Gerät sie Ende des Jahrzehnts ins Minus, erhalten jene rechtsbürgerlichen und jungfreisinnigen Kreise Auftrieb für ihre Initiative, das Rentenalter auf 66 und danach gleitend mit der steigenden Lebenserwartung weiter zu erhöhen. Dies, obschon der Arbeitsmarkt heute schon über 55-Jährige ausgrenzt.

Es darf kein Defizit in der AHV-Rechnung geben. Sonst erhalten jene Oberhand, die seit jeher die AHV «gesundschrumpfen» und die Altersvorsorge zur viel teureren zweiten und dritten Säule mit ihren gewinnträchtigen Finanzmarktanlagen verschieben wollten.

Publiziert in Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-Online  am 5. 7. 2022