Interview zum Abgeltungssteuerabkommen: Ich bin nachträglich als Kronzeuge hingestellt worden

Interview im Tages-Anzeiger/Bund/BaslerZeitung (Online) 06.06.2012

War es nötig, der offiziellen Schweiz in den Rücken zu fallen?
Das ist der Eindruck, der von der Bankenseite geschaffen wird. Ich habe mich schon früh kritisch über das Abgeltungssteuerabkommen mit Deutschland geäussert, in meinen Kolumnen in «Tages-Anzeiger» und im «Bund» sowie in der «Zeit». Darin habe ich vor allem einen problematischen Punkt aufgedeckt: dass die deutschen Steuerflüchtlinge 15 Monate Zeit haben, um das Geld ins Ausland zu bringen. Damit können sie sich die Regularisierungsabgabe sparen. Für die deutschen Sozialdemokraten ist dieses Schlupfloch aber Hauptgrund, warum sie das Abkommen ablehnen.

Sie haben doch bei der SPD in Berlin für ein Nein zum Abkommen geworben, oder?
Ich habe der SPD nicht die Ablehnung empfohlen! Ich war als Experte eingeladen bei SPD-Chef Sigmar Gabriel und einigen Finanzministern der Bundesländer. Dort habe ich nichts anderes gesagt als das, was ich vorher schon in den besagten Zeitungen geschrieben habe. Die SPD hatte damals ihr Nein zum Abkommen schon beschlossen, die SPD-Finanzministerkonferenz hatte am Vortag stattgefunden. Ich bin danach als Kronzeuge hingestellt worden für einen Entscheid, der bereits gefällt worden war.

Eine kritische Analyse zur Schweizer Verhandlungstaktik wird ja gern gelesen – aber mussten Sie damit nach Berlin reisen?
Ich halte es für wichtig, dass man jetzt darauf aufmerksam macht und nicht im Nachhinein lamentiert. Ich bin sehr ungehalten über das schweizerische Staatssekretariat für internationale Finanzfragen, das die Forderung der Bankiervereinigung beinhart vertreten und auf einem zeitlichen Steuerschlupfloch beharrt hat. In einem Datenlieferabkommen mit den USA hat die Schweiz nachgegeben und das Stichdatum so vorverlegt, dass Steuerflüchtlinge nicht mehr durchschlüpfen konnten. Übrigens war ich bereits letztes Jahr zweimal bei Staatssekretär Michael Ambühl im Büro und habe ihn vor diesem Schlupfloch gewarnt. Im April habe ich ihn über meine Reise nach Berlin laufend informiert, später auch die Schweizerische Bankiervereinigung. Ich halte das Abgeltungssteuerabkommen für ein grosses Reputationsrisiko für die Schweiz, wenn man in zwei Jahren sieht, dass statt der prognostizierten 12 Milliarden Franken nur 4 Milliarden nach Deutschland fliessen.

Diese Zahl ist eine Spekulation, Bundesbern hat nie eine genannt. Warum sollen uns die Schätzungen der Nachbarn kümmern?
Eben deshalb, weil die Deutschen erfolglos darauf beharrt haben, den Stichtag auf das Publikationsdatum vorzuverlegen. Die Bankiers haben aber darauf gedrängt, dass das Abschleichen möglich ist. Heute ködert Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Bundesländer mit diesen 12 Milliarden Franken am erwarteten Amnestiertag. Das ist doch ein Risiko auch für den Ruf der Schweiz!

Liegt es im Interesse der Banken, die Kunden abschleichen zu lassen?
Einige Schweizer Banken haben in Singapur und anderswo bereits ihre Auffangfilialen aufgebaut. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir Schweizer gebrannte Kinder sind. 2002 haben wir mit der EU ein Zinsbesteuerungsabkommen unterzeichnet, darin war mit der Ausnahme für die variable Verzinsung ein Schlupfloch eingebaut. Damit sind 90 Prozent der Zinsbesteuerung entfallen. Das hat dem Ruf der Schweiz bei allen EU-Staaten enorm geschadet.

Auch andere Steuerparadiese entwickeln sich in Richtung Weissgeldstrategie. Ist die Gefahr der Abwanderung so gross?
Es ist zu hoffen, dass ich mit meiner Mahnung nicht Recht bekomme.

Die Schweizer Genossen sind teilweise anderer Meinung, manche befürworten das Abkommen. Die Sozialistische Bodensee-Internationale hat die SPD sogar in einem Brief kritisiert, wie die NZZ schreibt.
Die SP Schweiz befürwortet das Abkommen mehrheitlich. Ich kritisiere das nicht. In der Fraktion herrscht eine andere Dynamik als mit einer Aussensicht. Ich fühle mich da frei, mich als Experte zu äussern.

Im November 2011 nannten Sie die Abgeltungssteuer in Ihrer Kolumne im TA einen Fortschritt. Im April 2012 bezeichneten Sie sie als verhandlungspolitische Sackgasse. Haben Sie Ihre Meinung geändert?
In gewissen Bereichen ist die Abgeltungssteuer ein Fortschritt, bezüglich Amtshilfeerleichterung beispielsweise. Was mich aber skeptisch macht, ist die ständige Beteuerung der Bankiers, damit den automatischen Informationsaustausch unterlaufen zu wollen. Das ist eine perfide Strategie gegenüber der EU. Auch die SP Schweiz befürwortet das automatische Informationssystem. Das auf der Abgeltungssteuer basierende System wird nicht lange Bestand haben.

Wie würden Sie die Altlasten abgelten?
Ich würde den Stichtag vorverschieben. Ansonsten befürworte ich das Abkommen.

Wäre der automatische Informationsaustausch wirklich besser? Bestünde nicht die Gefahr des gläsernen Bürgers?
Er wäre besser. Der Datenaustausch würde nur für Steuerbehörden gelten. Entgegen dem, was Bundesbern sagt, würden Bankiers entlastet. Die sogenannte Weissgeldstrategie zwingt die Banken, als Mini-Steuerbeamte zu funktionieren. Bei einem automatisierten Datenaustausch fahren sie administrativ besser. Das getrauen sich bis jetzt nur der Raiffeisen-Chef und die Kantonalbanken zu sagen, die anderen sagen es hinter vorgehaltener Hand.

Zum Artikel im Tagesanzeiger

 

 

 

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