Wir erleben eine groteske Sprachreinigungswelle

Kolumne von Rudolf Strahm in TA-Media vom 2. 8. 2022

Die Tugendeliten der universitären Paläste meinen, mit sprachlichem Waschzwang würden sie die Welt verbessern. Eigentlich braucht es eine unaufgeregte Debatte.

Vor einer Woche ist die 95-jährige feministische Philosophin Carola Meier-Seethaler in Bern zu Grabe getragen worden. Viele Jüngere wissen nicht, dass sie einst mit ihren Bestsellern, darunter das Monumentalwerk «Ursprünge und Befreiungen, eine dissidente Kulturtheorie», im deutschen Sprachraum zu den Begründerinnen der feministischen Philosophie gehörte – vergleichbar etwa mit Simone de Beauvoir in Frankreich.

Dieses Frühjahr wurde Meier-Seethaler von einer universitären Philosophinnen-Gruppe eingeladen, für die PhilExpo22 einen Text zu den an den Universitäten organisierten Philosophie-Wochen beizusteuern.

In diesem Text schrieb sie: «In meiner emanzipatorischen Position trete ich für die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Lebensgebieten ein. Sie ist noch längst nicht erreicht, solange weltweit Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts diskriminiert, verfolgt und ermordet werden.» Sie wollte damit auch an afrikanische und islamische Gesellschaften und Kulturen erinnern.

Carola Meier-Seethaler war dann erstaunt, als die PhilExpo-Verantwortliche Tanja Liebschwager von der Uni Basel im Namen des Feministinnen-Teams ihr schrieb: «Gerne würden wir das Wort ‹biologisch› an dieser Stelle weglassen.» Die betagte Philosophin war damit nicht einverstanden. Sie meinte es so, wie sie schrieb, und begründete es ausführlich.

Ich verfüge über die Mailwechsel, die dazu führten, dass der Text der berühmten feministischen Kulturtheorie-Autorin letztlich nicht erschien. In der Sprachreinigungswelle der radikalisierten Gender-«Wissenschaftlerinnen» darf man nicht mehr vom «biologischen Geschlecht» reden. Ich befürworte einen respektvollen Umgang mit Inter- und Transgeschlechtlichkeit. Aber das Vorgefallene ist subtiles Mobbing der akademischen Cancel-Kultur. (Cancel heisst streichen, aufheben , entwerten)

An manchen Orten erlebt man groteske, geschichtsvergessene Aktionen einer selbst ernannten Gesinnungspolizei.

Einen anders gelagerten Fall von fanatisierter Bilderstürmerei erlebte das Wylergut-Schulhaus in Bern. In einem 1949 erstellten, geschützten Wandbild der berühmten Künstler Eugen Jordi und Emil Zbinden (dem grossen Holzschnitt-Illustrator der Gotthelf-Bände) übermalten radikalisierte Gesinnungspolizisten im bebilderten Alphabet drei Bildtafeln unreparierbar, nämlich den Chinesen, der für den Buchstaben C steht, den Indianer für das I und den Afrikaner für das N. Die beiden weltoffenen Künstler wollten nach dem Weltkrieg der damaligen Schülerschaft illustrieren, dass es auch andere Welten und Kulturen gibt. Die Bildzerstörer sind offenbar bekannt, doch der links-grüne Gemeinderat der Stadt Bern verzichtete aus politischer Rücksicht (oder Feigheit) auf eine Strafanzeige. Seither diskutieren Denkmal-Experten, wie man das halb zerstörte Wandbild retten, ablösen oder ins Museum überführen könnte.

An manchen Orten erlebt man groteske, geschichtsvergessene Aktionen einer selbst ernannten Gesinnungspolizei: etwa die Verbannung der Unwörter «Zunft zum Mohren» und «Mohrenkopf». Oder wenn ein faktenbasiert begründetes Unbehagen über die Folgen von Migration mit der «Rassismus»-Keule moralisierend verfemt wird. Oder die Klimadebatte, die mit apokalyptischen Szenarien wenig hilfreich aufgeblasen wird. Oder jüngst die ethnische Ausgrenzung mit dem Killerwort einer «kulturellen Aneignung».

Ein sensibleres Erwachen («woke») für soziale Fragen hat gewiss einen guten Kern. Freilich wissen aber die Älteren aus Erfahrung, dass sich jede soziale Bewegung selbst gefährdet, wenn sich einige Radikalisierte zum Fundamentalismus versteifen. Die historisch glorifizierte 68er-Bewegung fiel schon 1970 in Sozialliberale, Trotzkisten, Maoisten, Hippies und Aussteiger auseinander. Oder wenige Jahre nach der Französischen Revolution und Aufklärung tat sich die kleine radikale Machtgruppe der Jakobiner hervor, die mit dem Schafott Terror ausübte.

In einer Meinungsblase bestätigt man sich gegenseitig und verirrt sich im Realitätsverlust.

Was heute neu ist und die Radikalisierung in identitären Meinungszirkeln verstärkt, ist das Vehikel der sozialen Medien wie Facebook, Instagram und dergleichen. In einer Meinungsblase bestätigt man sich gegenseitig und verirrt sich im Realitätsverlust. Und die SVP bewirtschaftet dann genüsslich jede Groteske für ihre Kampagnen.

Die Sprachreinigungswelle geht indes oft von universitären Palästen der politischen Korrektheit aus. Ihre Tugendeliten meinen, mit sprachlichem Waschzwang würden sie die Welt verbessern. In ihrer Blase übersehen sie, dass man andernorts längst über sie spottet und sie mit Witzen verhöhnt.

Wenn Sie mich fragen, wie dieser grotesken Tugendwelle zu begegnen sei: Ich weiss es nicht! – Eigentlich bräuchte es eine unaufgeregte Debatte. Doch dabei sollte gelten: Wehret den Jakobinern und Jakobinerinnen!

Vielleicht braucht es halt auch Zivilcourage zur Verteidigung der Denk- und Meinungsfreiheit gegen dieses Bashing der Woke- und Cancel-Kultur. Vielleicht braucht es auch die Veteranen und Veteraninnen zum Flankenschutz für jene, die in ihrer Karriere dem akademischen Tugendterror ungeschützt ausgesetzt sind.

Publiziert  in Tages-Anzeiger, Der Bund, TA-Online    –   2. August 2022