Neue Titel werten die Berufsbildung auf

Kolumne im Tages-Anzeiger – Dienstag, 17. Juni 2014

Ein wegweisender Nationalratsentscheid letzten Donnerstag ging in der täglichen Informationsflut unter: Mit 93 zu 80 Stimmen unterstützte die grosse Kammer eine Motion von Nationalrat Matthias Aebischer und 72 Mitunterzeichnern, die höhere Berufsbildung mit den Titeln «Professional Bachelor» und «Professional Master» für diese Abschlüsse aufzuwerten.

Es ist ein Schicksalsentscheid im Jahr der Berufsbildung, weil er gleich lange Spiesse zwischen schweizerischen und ausländischen Berufsabschlüssen zu schaffen versucht. Linke, grüne und dem Gewerbe nahestehende bürgerliche Parlamentarier stimmten dafür; der bildungselitäre Freisinn bekämpfte sie.

Was heisst höhere Berufsbildung eigentlich? Warum ist deren Aufwertung so wichtig für das ganze Berufsbildungssystem? Und warum gibt es eine derart starke Gegnerschaft? Hier ein Versuch, Transparenz zu schaffen:

Die höhere Berufsbildung (oder Stufe Tertiär B) umfasst die vom Berufsbildungsgesetz anerkannten Weiterbildungsabschlüsse nach der Berufslehre. Früher kannte man Prüfungen für Meister, Poliere oder Treuhänder. Heute gibt es rund 500 spezialisierte Diplome und Fachausweise mit drei Bildungsstufen: die Eidgenössischen Berufsprüfungen (BP), die Höheren Fachschulen (HF) (nicht zu verwechseln mit den Fachhochschulen) und die Höheren Eidgenössischen Fachprüfungen (HFP).

Es sind meistens teure, mehrjährige berufsbegleitende Spezialausbildungen zum Techniker, Meister, Controller, Wirtschaftsinformatiker, Pflegefachkader, technischen Kaufmann oder Treuhandexperten. Sie sind für die Karriere von Berufsleuten entscheidend und für die qualitätsorientierte Wirtschaft unentbehrlich. Aber sie leiden unter einem Mangel an gesellschaftlicher Reputation: Es gibt zwar 500 verschiedene Diplombezeichnungen, aber keinen übergreifenden Titel. Deshalb wird diese Bildungsstufe verkannt. Und darum ist die Aufwertung dieser Abschlüsse so wichtig für das ganze, durchlässige Berufsbildungssystem, das nach dem Prinzip «kein Abschluss ohne Anschluss» organisiert ist.

Mit der vom Nationalrat angenommenen Motion wird der Bundesrat beauftragt, zusätzlich zu den speziellen Diplombezeichnungen auch den übergreifenden Titel des «Professional Bachelor» und «Professional Master» einzuführen. «Professional» steht für praktische Anwendungskompetenz. Damit sollen die meist besser qualifizierten Absolventen der höheren Berufsbildung in der Schweiz auf dem nationalen und internationalen Arbeitsmarkt gleich lange Spiesse wie die Bachelor und Master ausländischer Massenuniversitäten erhalten, die von Konzernen häufig nur aufgrund ihrer akademischen Titel bevorzugt werden.

Die Absolventen der höheren Berufsbildung sind das Rückgrat unserer Wirtschaft, die auf kleinen und mittleren Unternehmen basiert. KMU beschäftigen zwei Drittel aller Arbeitnehmenden und bieten sieben von acht Lehrstellen. Umfragen bei Unternehmen belegen: Absolventen mit höherer Berufsbildung sind in der Wirtschaft begehrter als Hochschulabgänger.

Ohne die höhere Berufsbildung wäre der Fachkräftemangel in unserem Land viel dramatischer. Denn neben den jährlich 28 500 Diplomierten von Unis, ETH und Fachhochschulen (ohne Doppelzählungen gerechnet) erwerben jährlich 27 000 ein Diplom oder einen Fachausweis in der höheren Berufsbildung. Die Verbreitung der neuesten Technologien – etwa in der Energietechnik, der Gebäudeautomation, des Rechnungswesens, der betrieblichen Informatik – verläuft über solche berufsbegleitenden Weiterbildungsstufen. Die höhere Berufsbildung ist heute das bedeutendste Vehikel der Technologiediffusion in unserer KMU-Wirtschaft.

Die Lehrgänge der höheren Berufsbildung sind teuer. Die Absolventen und ihre Arbeitgeber zahlen die Kurse und Schulung mehrheitlich selber. Im Durchschnitt kostet die Ausbildung 7000 Franken pro Jahr. Für die mehrjährige Ausbildung bis zum höheren Fachdiplom als Meister, Techniker, Treuhandexperten oder Controller sind oft 30 000 bis 40 000 Franken nötig. Zum Vergleich: Ein Studienjahr an einer Hochschule kostet 1500 bis 1600 Franken, der Staat zahlt das meiste.

Es ist unerhört, wie sich die in jeder Hinsicht privilegierte Hochschullobby gegen die finanzielle und titelmässige Aufwertung der höheren Berufsbildung zur Wehr setzt. Der Interessenvertreter der Fachhochschulabsolventen im Parlament, Christian Wasserfallen, bekämpfte die Aufwertung der höheren Berufsbildung aus rein standespolitischen Gründen. Der freisinnige Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation, Mauro Dell Ambrogio, der früher im Tessin als Fachhochschuldirektor, Polizeikommandant, Richter und Spitaldirektor tätig war, fördert zielstrebig die Akademisierung und verhindert ebenso zielstrebig die Aufwertung der Berufsbildung. Peinlich war, wie Bundesrat Johann Schneider- Ammann in der Ratsdebatte zur Motion einfach die Stellungnahme des Staatssekretariats herunterlas.

Wir brauchen dringend eine Debatte über die Akademisierungsfalle, in der das schweizerische Hochschulwesen teilweise gefangen ist und sich am Arbeitsmarkt vorbeientwickelt. Im letzten Jahr wurden an den schweizerischen Universitäten 9400 Studierende mit Hauptfach Psychologie gezählt, 4500 Studierende in Politologie, 4200 Historiker und Kunsthistoriker und 1140 Ethnologen. An den Fachhochschulen gab es 6030 Studierende in Künsten wie Musik und Theater. Den 44 000 Studierenden in den Geistes- und Sozialwissenschaften stehen an unseren Universitäten nur 24 000 in exakten und Natur-Wissenschaften gegenüber.

Ist dies nicht eine Fehlentwicklung am Arbeitsmarkt vorbei? Anfang dieses Jahres zählte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) 3121 Arbeitslose mit Doktortitel und 17 870 weitere Arbeitslose mit einem anderen Hochschulabschluss. Darüber spricht niemand.

Ich will nicht die eine Bildungsstufe gegen die andere ausspielen. Nur die Frage stellen, ob das Bildungssystem nicht eine effizientere Steuerung braucht. Zuständig wäre das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) zusammen mit dem Hochschulrat und den Kantonen.

Die höhere Berufsbildung ist, was die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt anbelangt, jedenfalls nicht das Problem. Im Gegenteil

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