Für die EU-Verhandlungen braucht es einen Plan B

Kolumne im Tagesanzeiger/Bund vom  30.6.2015.

Viele haben es nicht bemerkt; und diejenigen, die es bemerkten, haben es meist verdrängt: Dass der Bundesrat letzte Woche an seiner Klausursitzung einen strategischen Kurswechsel zu den Verhandlungen mit der EU eingeleitet hat.

Bisher wollte die Regierung nämlich das Dossier über die Personenfreizügigkeit mit der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative getrennt vom Dossier der sogenannt institutionellen Fragen verhandeln. Bei Letzteren geht es um die Forderung der EU, dass die Schweiz das weiterentwickelte EU-Binnenmarktrecht automatisch, ohne weitere Verhandlungen, übernimmt und bei Differenzen den Entscheid allein dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) überlässt. Diese Forderung ist längerfristig wohl viel tiefgreifender und weitreichender als jedes andere EU-Begehren.

Noch mehr Forderungen

Neben diesen beiden Verhandlungsdossiers fordert die EU Weiteres: ein Stromabkommen, eine für die Schweiz sehr teure Reform der Unternehmensbesteuerung und – politisch über die OECD erzwungen – ein Abkommen über den automatischen Informationsaustausch von Bankkundendaten, dann weitere 1,3 Milliarden Franken Kohäsionszahlungen für die Ostländer und dazu zahlreiche Konzessionen in der Personenfreizügigkeitspraxis.

Nun will also der Bundesrat alle diese Verhandlungsthemen zusammenführen und einem Superdiplomaten anvertrauen. Aus heutiger Sicht scheint mir diese neue Verhandlungsstrategie richtig, weil sie mehr Ergebnis­flexibilität verspricht. Eine neue Koordination war längst fällig, weil Yves Rossier dazu nicht in der Lage war. Indes würde ich bezweifeln, dass das EDA dafür derzeit über einen wirklich fähigen Superdiplomaten verfügt.

Grundsatzdebatten befürchtet

Diese neue Verhandlungsstrategie des Bundes erfordert allerdings die innere Bereitschaft von uns Schweizern zu zwei politischen Konsequenzen, für welche die Regierung bisher keinen Plan B zur Hand hat.

Die erste Konsequenz betrifft die Bereitschaft, dass die Neuregelung der Personenfreizügigkeit nicht bis 2016 gelöst und die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative nicht, wie im Verfassungsartikel vorgesehen, bis 9. Februar 2017 unter Dach ist. Das ist kein Unglück, denn der Verfassungsartikel sieht vor, dass der Bundesrat beim Fehlen eines Gesetzes selber zuständig ist für die pragmatische Umsetzung mit einer Verordnung. Wer allerdings meint, den Personenfreizügigkeitsartikel auf die Schnelle mit einer neuen Volksabstimmung aus der Verfassung zu streichen, ist politisch ein Träumer. Immerhin haben 17 Kantone die Masseneinwanderungsinitiative befürwortet

Die zweite Konsequenz fordert uns psychopolitisch noch stärker heraus: Wir müssen damit rechnen, dass die EU-Bürokratie eine Kündigung der Bilateralen I mit der Schweiz beantragen wird. Darauf warten die EU-Aussenpolitiker in Brüssel gleichermassen wie die EU-Idealisten bei uns. Aber: Eine Kündigung zu beantragen, heisst nicht, eine Kündigung zu vollziehen! Denn die Kündigung der bilateralen Abkommen Schweiz–EU würde Einstimmigkeit unter allen 28 EU-Mitgliedstaaten erfordern. Man stelle sich vor, welche generelle Grundsatzdebatte über die Personenfreizügigkeit etwa in England, Dänemark, Finnland, aber auch in Holland und Frankreich ausgelöst würde!

Genau vor diesem Szenario schreckt Brüssel zurück. Diese Angst ist der tiefere Grund für die dogmatische Unnachgiebigkeit Brüssels und die periodischen Drohgebärden gegenüber der Schweiz, die von den meisten Brüssel-Korrespondenten – auch jenem dieser Zeitung – unhinterfragt kolportiert werden. Die EU ist in entscheidenden existenziellen Fragen in der grössten Krise ihrer Geschichte. Dies macht sie bewegungsunfähig, starr und dogmatisch.

Stichwort Griechenland: Von links bis rechts analysierten alle unabhängigen Ökonomen, dass es für Griechenland einen Schuldenschnitt braucht. Der IWF forderte ihn, die Wallstreet und eine Mehrheit von Banken fordern ihn. Der tiefere Grund des Scheiterns liegt nicht im zusätzlichen Sparprozentlein – das griechische Volk ist durch die von aussen aufgezwungene Austeritätspolitik schon lange geschunden worden. Vielmehr besteht der ökonomische Skandal darin, dass die EU nicht fähig war zu einem echten Schuldennachlass. Griechenland erhielt nicht einmal jenen Schuldennachlass, den man der Ukraine und früher Argentinien, Brasilien und Mexiko gewährt hat. Brüssel befürchtet nämlich, dass auch die erstarkte Podemos-Partei in Spanien und viele linke und rechte Kräfte in Italien, Portugal, Irland das Gleiche fordern. Und man fürchtet die Blockierung durch die deutschen Finanzhardliner. Aus dieser Unbeweglichkeit heraus musste am geschwächten Griechenland ein Exempel statuiert werden.

Osterweiterung macht EU schwach

Stichwort Dublin: De facto ist das Dublin-Abkommen über die Asylpolitik mit dem Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer längst ausser Funktion gesetzt worden, nur darf man dies nicht so sagen. Eine Neuregelung mit einer verbindlichen Flüchtlingszuteilung an die EU-Mitgliedsländer ist gescheitert. Die osteuropäischen Regierungen blockieren jede Verteillösung. Man hat noch nicht begriffen, dass die EU mit der Osterweiterung eine Andere geworden ist, nämlich nationalistischer und entscheidungsschwach.

Stichwort Elektrizitätsabkommen: Die EU-Länder selber hätten ein Interesse an einem Vertrag mit dem Stromtransitland Schweiz. Dieser ist ausgehandelt, die zuständige EU-Direktion war dafür, doch die EU-Aussendirektion hat das Veto eingelegt, um den Druck auf die Schweiz zu manifestieren. Selbst innerhalb des Brüsseler Apparats spricht man von den «Ayatollahs», die aus dogmatischen Gründen verbale Kriegserklärungen inszenieren. Der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft tut das nicht weh. Sie war ab 2007 während fünf Jahren ohnehin gegen und seit 2012 bloss halbherzig für das Abkommen.

Es geht bei dieser Fallanalyse nicht um ein EU-Bashing, sondern um eine realistische Einschätzung von Chancen und Risiken. Die Entscheidungsschwäche Brüssels ist eine Tragik, wir können uns darüber nicht freuen! Denn der Dogmatismus, die realitätsverweigernde Unflexibilität und das repetitive Berufen auf den Katechismus stärkt die rechtsnationalistischen Kritiker in immer mehr EU-Mitgliedsländern.

Aus dieser realistischen Situationsanalyse heraus sollte Bundesbern einen Plan B und weitere Szenarien für die künftigen Verhandlungen andenken. Zum Plan B gehört die Einsicht: Der Schlüssel für eine Kompromisslösung bezüglich Personenfreizügigkeit liegt nicht in den Verhandlungen mit Brüssel, sondern bei individuellen Verhandlungen auf Präsidenten­ebene mit den Staats- und Regierungschefs in Berlin, Paris, Rom und Wien. Dort sind auch mehr Verständnis, mehr Flexibilität und mehr gegenseitige Interessen im Spiel, um mit dem schwierigen Nachbarn Schweiz eine pragmatische Lösung zu finden.

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